Die Tänzerin im Schnee - Roman
Seite eine gute Sicht auf die Tür zur Loge A, und Nina kann es sich nicht verkneifen, alle paar Minuten hinüberzuschauen. Sie fragt sich, was wohl geschieht, wenn sich diese Tür öffnet, wie es sich anfühlen würde, angesprochen zu werden von – oder gar zu sprechen mit –
ihm
. Sie hat davon schon so oft geträumt, und immer machte ihr Herz dabei einen kleinen Satz. Sie hat sich vorgestellt, wie anmutig sie dabei sein und was für einen guten Eindruck sie hinterlassen würde, wenn sie bloß nicht in Ohnmacht fiele. Jetzt kommt ihr allerdings noch ein anderer Gedanke: Wenn Stalin nur wüsste, was gerade mit Gersch passiert, könnte er ihm doch bestimmt helfen.
Oder weiß er es vielleicht? Wie könnte er es nicht wissen? Der mächtigste Mann im ganzen Land …
Aber wenn sich diese Tür nun öffnete, würde sie sich wirklich trauen, etwas zu sagen, ihn um Hilfe zu bitten? Der Gedanke überwältigt sie. Sie versucht nicht weiterzudenken und sich auf das Ballett zu konzentrieren. Wenn sie hinter der Bühne nur auch Kitris Nervenstärke besäße … Pjotr ist ebenfalls schweigsam. Seine Gedanken kreisen wohl auch um Loge A, vielleicht denkt er an Juris Geschichte über dessen Begegnung mit Stalin und stellt sich vor, wie er sich dabei gefühlt hätte.
Dann ist ihre Pause vorbei, sie stehen wieder auf der Bühne, die Nina so gut kennt, ihre Ängste fallen von ihr ab, und es existiert nur noch das Gefühl ihres tanzenden Körpers.
Nach dem Ballett verbeugt sie sich vor dem Vorhang, wie immer zuerst in Richtung der Seitenlogen, und hält kurz vor der wichtigstenvon ihnen inne, um
seiner
Anwesenheit ihren Tribut zu zollen. Daraufhin fährt sie fort wie gewöhnlich, verbeugt sich zur Mitte und dann zum hinteren Teil des Publikums, bevor sie den Zuschauern auf den Balkons zulächelt. Nachdem sie auch den Dirigenten und die Orchestermitglieder bedacht und eine Welle des Applauses für ihre Arbeit hervorgerufen hat, weicht sie von ihrem gewöhnlichen Programm ab und wendet sich abermals Stalins Loge zu, wobei sie eine tiefe
Révérence
vollführt. Erst als die Vorhänge sich vor ihr geschlossen haben und den Applaus auf der anderen Seite dämpfen, wird Nina bewusst, dass sie ihn mit ihrem Körper gebeten hat, ihr zu helfen.
Als sie sich spät in dieser Nacht völlig erschöpft in ihrem noch ungewärmten Bett zusammenrollt, fragt sie Viktor, weshalb Zoja Gersch geheiratet hat, einmal abgesehen von ihren Gefühlen für ihn und ihrer Konkurrenz zu Vera. »Sie ist solch ein Emporkömmling – zumindest wirkt sie so auf mich. Was hat sie dabei zu gewinnen?«
Vom Flur her können sie den Nachbarn hören, der seine Frau auf Armenisch anbrüllt. »Du kennst Zoja«, erwidert Viktor, »wie sie sich über Sachen aufregen kann. Sie ist ein Organisator. Ein Planer. Das ist ihr Beruf, sie liebt neue Projekte. Vielleicht ist Gersch für sie eins davon.«
Die Frau schreit irgendetwas in noch größerer Lautstärke zurück.
»Ein Projekt.« Nina erinnert sich daran, wie sie Zoja das erste Mal bei Gersch gesehen hat, an ihr großes Getue um den Tee und die angeschlagenen Tassen, als gäbe es für sie nichts Schöneres als ein wenig Aufregung. »Aber es ist gerade so eine schwere Zeit für ihn. Es überrascht mich, dass sie sich
so
einem Projekt widmen will.« Allerdings können sich solche Dinge jederzeit ändern, sagt sie sich. Das Schicksal kann sich vollständig wenden.
»Gersch meint, sie würde eben alles tun, um nicht mehr bei ihren Eltern und Schwestern leben zu müssen«, fügt Viktor hinzu. »Aber du weißt ja, wie zynisch er manchmal ist.«
Ninas Gedanken kehren zu Polinas Aussage zurück: dass Zoja alles tun würde, um Gersch zurückzugewinnen. Nina denkt an ihre eigenen Gefühle für Viktor, an die Heftigkeit ihrer Liebe, und muss daraus schließen, dass Polina instinktiv, ohne große Überlegung undohne Zoja überhaupt zu kennen, der Wahrheit am nächsten gekommen ist.
Viktor umfasst Ninas Gesicht mit den Händen. »Wir haben so viel Glück. Wir konnten unseren Gefühlen folgen. Nicht jeder hat diese Möglichkeit.«
Sie denkt, dass er recht hat, dass es ein unglaubliches Glück ist, Viktor neben sich in diesem Bett zu spüren, seine warmen Handflächen auf ihrem Gesicht, seine Daumen, die ihre Wangen streicheln. Der bloße Geruch seiner Haut kann ihren erschöpften Körper zu neuem Leben erwecken, egal wie müde sie ist.
»Aber was ist mit Vera?«, fragt sie. »Was passiert mit ihr?«
»Wenn es nach Gersch geht,
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