Die Tänzerin im Schnee - Roman
waren, die sich eine kleine, kahle Garderobe teilten.
»Ein ganzes Regal ist jetzt voll mit Klamotten von Zoja«, berichtet Vera ruhig und beinahe teilnahmslos weiter. »Im Grunde ist es jetzt
ihre
Wohnung. Oh, und wusstet ihr, dass sie Aufnahmen von Stalins Reden sammelt? Die laufen anscheinend die ganze Zeit auf Gerschs Plattenspieler.«
Nina lacht: »Ich schätze mal, das ist seine Strafe.«
»Ich verstehe nicht, wie du ihm vergeben kannst«, wirft Polina ein. Irgendetwas stimmt mit ihrer Haut nicht; die Quaddeln sind zwar verschwunden, doch nun sind ihre Wangenknochen von kleinen dunklen Flecken übersät. Sie sehen nicht direkt wie Narben aus, sondern mehr wie ein Ausschlag, der allerdings nicht rötlich, sondern grauschwarz ist.
»Er tut mir eben leid«, erklärt Vera. »Zoja hatte eindeutig von Anfang an ein Auge auf seine Wohnung geworfen. Sie benutzt ihn nur, um nicht mehr bei ihrer Familie leben zu müssen.«
Das ist es also, was Vera beschlossen hat zu glauben. Vielleicht hat auch Gersch sie – und sich selbst – davon zu überzeugen versucht. Womöglich ist es ja auch ein Teil der Wahrheit. Nina denkt noch darüber nach, als Polina auf die Uhr sieht und die beiden ermahnt: »Wir sollten gehen.« Dieser Nachmittag ist ihre einzige Gelegenheit, sich die Stadt anzuschauen, oder besser gesagt: zum Einkaufen. Sie dürfen zwar den sowjetischen Sektor nicht verlassen, doch in so unmittelbarer Nähe zu den amerikanischen, französischen und britischen Sektoren stehen die Chancen gut, dass sie Dinge kaufen können, die bei ihnen zu Hause nicht zu bekommen sind. »Ich sage schnell Arwo Bescheid.« Arwo ist der Komsomol-Vertreter, der mit der Truppe reist. Sie sind dazu verpflichtet, ihn über ihr Kommen und Gehen zu informieren.
»Ach, er wird es schon merken«, winkt Nina ab. Es kann immerhin gut sein, dass eine der ostdeutschen Aufsichtspersonen, die ihnen beim gestrigen Begrüßungsessen vorgestellt worden sind und die überall herumzuschleichen scheinen, in der Eingangshalle auf sie wartet.
Doch dort ist niemand, als sie der Frau mit dem spitzen Gesicht, die vor dem Aufzug Wache hält, ihre Schlüssel übergeben und daraufhindas Gebäude verlassen und in den grauen, bewölkten Tag hinaustreten. Vera zuckt nur die Schultern, und Polina scheint sich zu entspannen, als sie sich ihren Weg durch die heruntergekommenen Straßen bahnen. Nina bemerkt, dass die Leute, an denen sie vorbeikommen, sie merkwürdig ansehen, und fragt sich, ob ihre Kleider sie herausstechen lassen, obwohl sie eigentlich gar nicht so anders angezogen sind als alle anderen. Aber nein, es liegt gar nicht an ihren Kleidern und auch nicht daran, dass sie aus Russland stammen; sie fallen auf, weil sie so eindeutig
Tänzerinnen
sind, mit ihrem sicheren, aufrechten Ballerinen-Gang und den hohen Chignons im Haar. Besonders Polina macht diese Tänzern eigenen übertriebenen Schritte aus der vierten Position, auch wenn es gar keinen Grund dafür gibt, so zu laufen – außer dass dieser Gang eben ein Teil von Polinas Identität ist. Nina kommt in den Sinn, dass jede von ihnen ihren charakteristischen Gang besitzt: Polinas ist unsicher und leicht gekünstelt, sie dreht dabei nur die Füße nach außen und nicht das ganze Bein. Veras Beine dagegen drehen sich ganz natürlich aus der Hüfte heraus, und sie tritt leicht und schwungvoll auf. Nina weiß, dass auch sie ihre körperlichen Eigenarten besitzt: den langen Hals und den stolz gereckten Kopf und ihre entspannte, aber doch kerzengerade Haltung, mit zurückgezogenen Schultern, so dass ihre Wirbelsäule eine perfekte Linie bildet. Damit unterscheidet sie sich deutlich von all den Marktbesuchern um sie herum, die sich zusammenkauern, als müssten sie sich durch ihre Besorgungen hindurchgraben oder als duckten sie sich vor der Kälte weg.
Ohne große Probleme finden die drei den Laden für Bühnenbekleidung, den man ihnen empfohlen hat. Ganz oben auf ihrer Wunschliste stehen Nylonstrumpfhosen, die nicht so schlaff an den Knien herabhängen wie die aus Seide, die sie zu Hause bekommen. Aber das Geschäft hat keine mehr. Nachdem sie sich mit Schminkstiften und Gesichtspuder eingedeckt haben, schreibt ihnen der Ladenbesitzer eine andere Adresse auf, wo sie alles Gewünschte finden können, wie er mit gewitztem Blick erklärt. Er nennt ihnen die U-Bahn-Station und beschreibt mit Gesten und in gebrochenem Russisch den Weg.
Als sie in die U-Bahn steigen, deren Wagen so überfüllt sind, dass sie
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