Die Tänzerin im Schnee - Roman
Kunststoffhandtasche Grigoris Phantasie eine Zeitlang stark angeregt. Mit jugendlichem Enthusiasmus hatte er bei der Vorstellung, wer seine leiblichen Eltern wohl gewesen waren, seinen Vater in eine Art Robin Hood und die Ballerina in dessen geheime Komplizin seiner wohltätigen Raubzüge verwandelt. Doch dann war Grigori ins
Lycée
gekommen, und seine Phantasien drehten sich fortan um das rothaarige Mädchen auf dem Schulhof, während er seine Energie auf die Hausaufgaben richtete, die unter anderem aus sorgfältigen
Explications de texte
bestanden, die er mit vor mühevoller Konzentration gedrängter Schrift auf das vorgegebene Millimeterpapier schrieb und dabei jeden einzelnen Buchstaben gewissenhaft in die kleinen Kästchen eintrug. Er wollte vor allem so sein wie alle anderen und seine eigene Clique haben, mit der er nach dem Unterricht rauchen, LPs austauschen und sich heimlich ins Kino schleichen konnte. Er ließ sich »Grigoire« nennen und trug wie seine Klassenkameraden den Wollpullover lässig über die Schultern geknotet. Und gerade als es so schien, als beherrschte er diese Rolle, verkündeten ihm seine Eltern, dass sie in die Vereinigten Staaten ziehen würden.
Dort lernte er noch eine Sprache fließend zu sprechen, arbeitete weiter fleißig für die Schule und konzentrierte sich ganz auf die Frage, für welches College er ein Stipendium bekommen konnte. Die Träumereien über seine leiblichen Eltern gab er zu dieser Zeit vollständig auf. Er hatte andere Dinge im Kopf: Grigori lernte Autofahren, machte Wochenendausflüge nach New York und, was das Unglaublichste von allem war, fand in der lebhaften Rothaarigen aus seinem Schachteam seine erste Freundin. Er beendete die High School und ging aufs College. In seinem zweiten Jahr an der Universität wurde er dann unvermutet zurück nach Tenafly gerufen. Sein Vater hatte einen Schlaganfall erlitten, an dessen Folgen er zwei Jahre später schließlich sterben sollte. Wenn er nach seinen täglichen Besuchen am Krankenhausbett,in dem Feodor unbeweglich lag, mit seiner Mutter allein zu Hause war, hatte sich Grigori mit einem bislang unbekannten schmerzerfüllten Herzen in sein Schlafzimmer zurückgezogen, in dem er zuvor nur zwei Jahre verbracht hatte. Es war einfach zu schrecklich, seinen Vater so krank und seine Mutter so plötzlich gealtert zu sehen. Ohne darüber nachzudenken, ging Grigori zum Schrank, in dem er nach seiner Ankunft aus Paris die alte Handtasche aus Kunststoff versteckt hatte.
Er nahm sie heraus, öffnete sie und leerte ihren Inhalt auf dem Bett aus, wo er sie wie in einem Schaukasten oder auf dem Instrumententisch eines OPs auslegte. Er betrachtete sie und überlegte, wessen Hände sie wohl einmal berührt hatten. Doch seine Neugier war nicht mehr so stark wie früher. Er las die Briefe (die er ohnehin fast auswendig wusste) nicht noch einmal durch, schaute sich aber doch erneut, wenn auch eher unbeteiligt die Personen auf den zwei Fotografien an. Dann setzte er sich aufs Bett – und fühlte plötzlich, wie sich etwas in seine Kniesehne bohrte. Er stand auf und sah, dass er sich auf eine Ecke der Handtasche gesetzt hatte. Er fragte sich, woran er sich gestochen haben könnte. Er befühlte die Außenseite der Tasche und bemerkte eine kleine Ausbeulung. Sofort steckte er seine Hand hinein, da er wissen wollte, was sich darin befand. Das Innenfutter der Tasche bestand aus einem seidigen Material – doch nun entdeckte Grigori einen kleinen Riss direkt unter der Naht. Er musste die Tasche umdrehen und sich mit den Fingern wie ein Maulwurf durch einen Tunnel vorarbeiten, um den Gegenstand herauszuholen. Dann hielt er ihn in Händen und sah, dass es sich um eine goldene Kette handelte, an der ein keilförmiger Bernstein in einem passenden Goldrahmen hing.
Ein Zeichen. Eine geheime Botschaft. Als hätte sich die Kette dort vor ihm versteckt. Sie hatte auf den richtigen Moment gewartet, in dem der einzige Vater, den Grigori je gekannt hatte, ihn ungewollt im Stich ließ und ab dem nur noch diese andere Geschichte fortgeschrieben werden konnte. Immerhin war sein anderer Vater ja womöglich noch am Leben. Der Bernstein hütete sein eigenes Geheimnis. Darin befand sich eine Spinne, die mitten in der Bewegung erstarrt war, und noch etwas anderes: eine große helle Wölbung – wie ein Fallschirmoder ein Ballon –, die unter der Spinne hing. Grigori betrachtete sie eine ganze Weile rätselnd.
Er entschied ohne lange Überlegung, seiner Mutter
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