Die Tänzerin im Schnee - Roman
sollte man außerdem auch tun in einem Land, in dem einen niemand kennt und wo man nicht einmal mehr tanzen kann.«
Nina hat solche Geschichten schon gehört, auch wenn sie ihr immer etwas übertrieben vorkamen. Warum sollten sie eine einfache Tänzerin bestrafen, als wäre sie eine Art Geheimagentin? Nina muss sich zwingen, nicht nachzusehen, ob die Frau mit dem grauen Hut noch hinter ihnen läuft.
Mit leiser, angsterfüllter Stimme setzt Polina an: »Vielleicht ist es wegen mir.«
»Was meinst du damit?«
»Es ist meine Schuld, dass die Frau uns gefolgt ist.« Polinas Schritte haben sich verlangsamt, und ihre Stimme ist fast nur noch ein Flüstern: »Warum ich? Ich bin doch nur eine Ballerina. Ich habe nur ganz wenige enge Freunde, niemand erzählt mir wirklich persönliche Dinge.«
»Geh weiter«, fordert Vera sie auf, während Nina versucht, Polinas Aussage zu deuten. Leise fragt Vera: »Hat dich jemand mit irgendeiner Sache beauftragt?«
So etwas passiert oft genug, selbst beim Ballett: jemand wird dazu gebracht, schriftlich Bericht zu erstatten. Nina hat davon gehört und ist schon vor bestimmten Leuten gewarnt worden, besonders vor jüngeren oder weniger erfahrenen Ballerinen – Tänzerinnen, die meist nur Nebenrollen bekommen oder die auf einer niedrigeren Stufe der Ballett-Hierarchie stehengeblieben sind. Wenn die Denunziation anderer ihre Karrieren befördern kann, halten sie gern Augen und Ohren offen. Aber was könnten sie dabei schon aufschnappen? Obwohl sie von solchen Dingen weiß, hat Nina nie gedacht, sie könnte selbst direkt davon betroffen sein. Und sie hat ja auch schließlich überhaupt nichts Falsches getan.
Vera sieht fast wütend aus und beißt sich auf die Lippen.
»Du kennst mich doch«, verteidigt sich Polina. »Ich mag jeden, und ich kann nichts dagegen machen, so bin ich nun einmal. Verstehst du nicht, wie schwer es für mich ist?«
Nina sieht Polina direkt in die Augen. Jetzt versteht sie den Ausschlag, die Unruhe und die nervösen Blicke. »Hast du … irgendetwasgemacht?« Schon während sie die Frage ausspricht, kann sie sich nicht vorstellen, was Polina eigentlich erzählt haben könnte. Schließlich kennt sie doch wohl kaum jemanden, der etwas wirklich Schlimmes getan hat?
»Ich schreibe bloß ganz allgemeine Sachen«, wispert Polina. »Aber sie sagen die ganze Zeit, dass das nicht reicht, dass ich meine Aufgabe schlecht erledige.« Sie hat angefangen zu weinen.
»Aber wenn du doch die Wahrheit sagst, was können sie dann noch von dir verlangen?«, fragt Nina. Veras Blick ist eisig, und sie scheint eine Antwort auf diese Frage gar nicht zu benötigen. Nina überlegt, ob es sich vielleicht nur um Polinas Wahrnehmung handelt, dass sie noch mehr tun soll. Möglicherweise hat Polina etwas missverstanden. Sie bemüht sich immer so sehr, es allen recht zu machen.
Und dann kommt Nina der Gedanke: Habe ich irgendetwas gesagt oder getan? Ich habe über Stalins Reden gelacht … Sogar diese Bemerkung über Arwo … Nina versucht sich zu erinnern, was genau sie gesagt hat und wie es für Polina geklungen haben mochte. Wie es sich auf einem Blatt Papier lesen würde. Und dann dieser kleine Zettel von der Frau im Laden …
»Mit Sofias Ausschluss von der Reise habe ich nichts zu tun!«, platzt es aus Polina heraus, deren Augen plötzlich weit geöffnet sind. »Ehrlich nicht. Ich könnte niemals jemandem weh tun. Es gibt doch gar niemanden, den ich nicht mag.«
Ninas Hände zittern, und Vera fordert Polina auf, leiser zu sprechen. »Kann Serge dir nicht helfen? Kann er dich nicht aus der Sache herausholen, damit du nichts mehr schreiben musst? Immerhin ist das seine Arbeit.«
»Seine Arbeit?«, fragt Nina.
Polina senkt ihre Stimme: »Er ist bei der Staatssicherheit.«
Die Geheimpolizei. Bevor Nina fragen kann, ob er dort Agent oder Verwaltungsbeamter ist, fügt Vera hinzu: »Er hat garantiert irgendwelche Beziehungen. Er muss doch jemanden kennen, der etwas tun kann.«
»Aber das würde sich doch wie eine Beschwerde anhören. Ich fände es schrecklich, wenn er denken müsste, dass ich nicht helfen will. Ich will ihn nicht enttäuschen.«
»Aber du bist keine Informantin, sondern Ballerina«, wirft Nina ein.
»Ich schätze, ich könnte ihn fragen«, haucht Polina und lässt ein leises Wimmern hören. »Bloß – ich liebe ihn, ich liebe ihn wirklich. Ich will nicht, dass zwischen uns etwas schiefläuft.« Sogar in ihrem Flüstern lässt sich ein jammernder Ton vernehmen:
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