Die Tänzerin im Schnee - Roman
nichts davon zu sagen. Sie war noch immer in ihre eigene tiefe Trauer versunken, und es konnte sie nur verletzen, wenn sie erfuhr, dass Grigori sich mit diesen anderen Eltern beschäftigte. Und was sollte sie auch mit der Kette anfangen? Diese schien allerdings recht wertvoll zu sein. Vielleicht war die verstorbene Ballerina
jemand
gewesen – jemand Berühmtes, Wohlhabendes. Oder vielleicht war die Kette auch das einzig Wertvolle gewesen, das sie besessen hatte. Grigori stellte rasch enttäuscht fest, dass die Kette, sosehr sie sich auch wie ein Zeichen anfühlte, ihm eigentlich gar nichts mitzuteilen hatte.
Im selben Jahr stieß er an der Universität auf ein weiteres Zeichen, das in seiner Zufälligkeit sogar noch bedeutsamer schien.
In der Universitätsbibliothek entdeckte er in dem Band
Der russische Schriftsteller im Sozialistischen Realismus
eine Fotografie. »Plenum des Schriftstellerverbandes, 1949« lautete die Überschrift. Ernst aussehende Männer in dunklen Anzügen standen hintereinander aufgereiht und blickten in die Kamera. In der ersten Reihe, so dass seine Gesichtszüge gut zu erkennen waren, stand der Mann von den Fotos – Grigoris Fotos aus der Kunststoffhandtasche, die von seiner Mutter stammte.
Grigoris Herz setzte kurz aus und begann dann wild zu schlagen. Er hielt sich die Seite nah vor die Augen und war sich mit jeder verstreichenden Sekunde sicherer, dass es sich um denselben Mann handelte. Doch wer war dieser Mann? Grigori blätterte mit geradezu waghalsiger Geschwindigkeit durch das Buch und schaute nur bei den Fotos länger hin, für den Fall, dass der Mann noch einmal auftauchte. Gerade als er davon überzeugt war, kein solches Glück mehr zu haben, wurde er fündig. Dieses Mal stand er mit zwei anderen zusammen. Der Bildunterschrift zufolge waren die Männer, deren Namen genannt wurden, Redakteure und Autoren der Zeitschrift
Literaturnaja Gaseta
. Grigori notierte sich schnell den Namen des großen Mannes mit den mandelförmigen Augen, der auf der rechten Seite stand. Viktor Elsin. Der Name kam ihm irgendwie bekannt vor; Grigori musste ihn schon einmal gehört oder gesehen haben. Erst späterfiel ihm ein, dass er ihn in zwei der Gedichtanthologien gelesen hatte, die er im vorigen Semester für eine Seminararbeit durchgegangen war. Er begann sofort mit der Recherche und verbrachte Stunden im dunklen Kellergeschoss der Bibliothek, wo er eine Spule nach der anderen in das Microfiche-Lesegerät einlegte und die flachen Enden von einer glänzend braunen Filmrolle nach der anderen durch das Rad drehte, so dass der beleuchtete Bildschirm sich mit jahrzehntealten Artikeln aus Zeitungen und Zeitschriften füllte. Dort las er alles, was er über Viktor Elsins Schicksal finden konnte, und stieß auf eine überraschende Information, die er sich nie zu finden erhofft und von der er nicht einmal zu träumen gewagt hätte: Viktor Elsin war mit der Ballerina Nina Rewskaja verheiratet gewesen, die – wie er nach weiteren hektischen Nachforschungen im Mikrofilmbestand der Bibliothek herausfand – derzeit in Boston, Massachusetts, lebte.
»Sie stellt seine Möbel um«, berichtet Vera ein paar Wochen nach Gerschs Heirat mit Zoja. Vera, Nina und Polina sind mit einer kleinen Truppe des Bolschoi-Theaters nach Berlin gereist. Nina ist zum ersten Mal in dieser zerstörten Stadt, deren Straßen noch nicht ausgebessert wurden und in der die Trümmer immer noch auf den geschwärzten Gebäuden und ausgebombten Plätzen liegen. Die drei beenden gerade ihr Nachmittagsmahl in ihrem Hotelzimmer, das sich in einem kaum beheizten Gebäude an einer sonderbar leeren Hauptverkehrsstraße befindet. Ein Essen im Speisesaal können sie sich nicht leisten. Auch nach ihrer Beförderung bekommt Nina nur ein äußerst knapp bemessenes Reisegeld. Wie alle anderen hat sie ihren Koffer mit Essen von zu Hause vollgepackt: mit Keksen, Bohnen und Sauerkraut in Dosen sowie einigen harten getrockneten Würstchen. Alles, um ein paar Kopeken zu sparen. Sie hat die Bohnen in Veras und Polinas Zimmer auf einem Gaskocher erwärmt, so dass nun der ganze Raum wie ein Zeltplatz riecht. Ihr eigenes Zimmer, das sie sich mit der anderen jungen
Première Danseuse
teilt, ist zwar größer und befindet sich in einem ruhigeren Stockwerk, doch in diesem Augenblick, in dem sie mit Vera und Polina Bohnen und Kekse isst, fühlt sie sich wie in alten Tagen (seit denen eigentlich kaum ein Jahr vergangenist), als sie alle drei eifrige Solistinnen
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