Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
anderes in die Hand.
    »Vielleicht wirst du es brauchen.« Die Stimme der Frau ist so sanft, ihr Russisch mit deutschem Akzent so leise, dass Nina es geträumthaben könnte. Doch ihr Händedruck ist beharrlich und unnachgiebig, als sie etwas gegen Ninas Handfläche presst. Ein winziger Zettel. Nina ist so überrascht, dass sie ihn nicht anzuschauen wagt. Sie bedankt sich nur mit einem Nicken und steckt die kleine Nachricht zusammen mit dem Geld in ihre Tasche.
    »Sieh mal«, ruft ihr Polina vom anderen Ende des Raumes zu. Sie hält eine Armbanduhr hoch: »Für Serge!«
    Ninas Herz pocht vor Angst, und der Zettel liegt ihr wie ein Feuer in der Tasche. Sie geht hinüber und begutachtet die Armbanduhr, um sich abzulenken. »Es ist also etwas Ernstes mit ihm?«, fragt sie, so ruhig sie kann.
    »Ach, Nina, er ist einfach wunderbar. Ich bin so glücklich.« Polina dreht sich zu der alten Verkäuferin um und fragt sie, was die Armbanduhr kosten soll.
    Während Polina den Preis für Serges Geschenk verhandelt, denkt Nina die ganze Zeit nur an den Zettel in ihrer Tasche. Was steht darauf, und weshalb hat die Frau ihn ausgerechnet ihr gegeben? So stark ihre Neugier auch ist, wagt sie doch noch nicht, sich das Stückchen Papier anzusehen.
    Als sie ihr ganzes Geld ausgegeben haben, eilen sie sofort zur U-Bahn zurück, da ihnen ihre wortwörtliche Grenzüberschreitung allzu bewusst ist, auch wenn sie nicht miteinander darüber reden mögen. Nina versucht, ihren Blick nicht auf die hellen Schaufenster und die Mäntel und Hüte in allen Farben und Formen zu richten. Sie schämt sich für ihr Staunen und dafür, dass diese Beobachtungen sie dermaßen aus der Fassung bringen, die doch so falsch wirken: Denn wie kann es sein, dass die »bösen Kapitalisten«, vor denen man sie gewarnt hat, so ruhig und zufrieden aussehen, ihre Straßen frei von Schutt sind und Bananen in Eckläden verkauft werden – und dass es kein verzweifeltes Gedränge darum gibt, sich nirgends Schlangen bilden? Als sie endlich in die Bahn eingestiegen sind, die zu ihrer Station in der Nähe des Lustgartens fährt, überkommt Nina ein Gefühl der Erleichterung.
    Erst auf dem Weg zu ihrem Hotel wagt Nina ganz leise zu berichten, was sie seit Verlassen des Trödelladens beobachtet. »Diese Frau da scheint uns zu folgen.«
    Ohne aufzusehen, fragt Vera: »Die mit dem grauen Hut?«
    »Du hast sie also auch bemerkt.« Nina fängt an zu zittern. Könnte es an dem Zettel in ihrer Tasche liegen? Und was ist mit Vera und Polina – hat die Frau ihnen beim Bezahlen auch etwas in die Hand gedrückt? Oder hat sie Nina ausgewählt, einfach, weil sie die Erste war, die etwas gekauft hat? Nina sehnt sich danach, die beiden zu fragen, doch es scheint ihr zu gefährlich. »Es war ein Versehen«, erklärt sie zu ihrer eigenen Beruhigung. »Wenn sie uns wirklich gefolgt ist, muss ihr das auch klar sein. Sie hat gesehen, dass wir nur etwas einkaufen wollten.«
    Daraufhin fragt Vera leise: »Du glaubst nicht, dass sie denkt, wir wollten … das Land verlassen?«
    »Aber natürlich nicht«, entrüstet sich Polina. »Warum sollten wir so etwas tun wollen?« Aber sie wirkt trotzdem ängstlich. Immerhin
weiß
sie es jetzt. Sie hat gesehen, was sich auf der anderen Seite befindet. Sie hat auch die reifen gelben Bananen gesehen und die Menschen, die daran vorbeiliefen, als wäre es nichts Besonderes.
    Nina muss an Sofia denken, die andere Solistin des Bolschoi-Theaters, die man in letzter Minute von der Reise ausgeschlossen hat, weil sie angeblich ein Risiko darstellte. Es hieß, der Grund dafür sei, dass sie Verwandte in Westberlin habe; erst jetzt versteht Nina, was das bedeutet.
    Mit Nachdruck in der Stimme sagt Polina: »Jeder weiß, dass es verrückt wäre, so etwas zu tun.« Sie wirkt noch blasser als vorher; die eigenartigen schwarzen Flecken auf ihren Wangen treten noch stärker hervor.
    »Deine Haut macht mir Sorgen«, bemerkt Nina.
    Polina wendet den Blick ab. »Onkel Felix sagt, ich soll nur Geduld haben, dann ginge es schon von allein weg.« Und als wäre es ihr unangenehm, über sich selbst zu sprechen, wiederholt sie: »Man wäre doch wirklich
verrückt
, wenn man das Land verlassen wollte.«
    Mit leiser, tonloser Stimme erklärt Vera: »Sie finden dich und dann brechen sie dir die Beine.«
    Polina sieht verängstigt aus.
    »Wohin du auch fliehst.« Vera spricht sanft und gemessen. »Ihre Agenten sind über die ganze Welt verteilt. Es ist ganz egal, wie weitdu kommst. Und was

Weitere Kostenlose Bücher