Die Tänzerin im Schnee - Roman
hungriges, im Nest allein gelassenes Vogelküken, das unablässig zwitschert. Wie schon so oft seufzt sie tief im Angesicht solch einer Tragödie. Egal wie oft es schon passiert ist, hat sie sich nie daran gewöhnen können – die mechanische Trostlosigkeit, die schale Sachlichkeit, die unabänderliche Endgültigkeit des Todes.
Bald ist sie bei einem der hübscheren Wohnhochhäuser angelangt, wo eine Frau namens Katja zusammen mit ihrem Ehemann Feodor wohnt. Laut der Freundin, die ihr von den beiden und ihrer Notlage berichtet hat, ist Katja Chemikerin und ihr Mann Geologe. In ihrem Namen hat Maria Boris im Archiv des Krankenhauses Geld gegeben, damit er ihr alle Dokumente übergibt.
Als sie Maria in die Wohnung bittet, zeigt sich auf Katjas Gesicht eine Mischung aus Lächeln und Sorgenfalten. Sie ist schon weit über vierzig, trägt ihr Haar jedoch in einem dicken, hochgeschlagenen Zopf, der im Nacken von einer breiten Haarspange gehalten wird. Sie küsst Maria, späht in das Bündel und beginnt zu weinen. Maria kann nicht unterscheiden, ob es Tränen aus Freude oder Mitgefühl sind. Das Kind schläft immer noch.
»Sind Sie ganz sicher, dass es keine Verwandten gibt?«, vergewissert sich Katja.
»Da war nur diese eine Freundin«, erklärt Maria ihr. »Nachdemsie die Leiche identifiziert hat, hat sie sich schnell aus dem Staub gemacht.«
»Sie stand wahrscheinlich unter Schock«, gibt Katja zu bedenken.
Maria schüttelt den Kopf: »Das war so eine Hochnäsige. Auch eine Ballerina, und was man von den anderen Schwestern so hört, scheint sie sogar berühmt zu sein.
Ich
kannte sie jedenfalls nicht. Ich habe ihr gesagt, sie könne die Sachen ihrer Freundin behalten …« Sie hört den ausweichenden Tonfall ihrer Stimme. »Sie wollte aber nichts davon haben.«
Das Umstandskleid und die ausgeleierten Strumpfhosen hat sie im Krankenhaus in die Mülltonne geworfen. Und was den armen Kleinen angeht, weiß doch jeder, dass ein Waisenhaus ein rauer Ort ist, gerade für ein uneheliches Kind. Maria hegt keinen Zweifel daran, dass sie ihm eine bessere Zukunft schenkt, eine Mutter und einen Vater, Legitimität und Liebe.
Katjas Gesichtszüge haben sich entspannt, und sie scheint schließlich bereit, an ihr Glück zu glauben. »Darf ich ihn halten?«, fragt sie.
»Er gehört Ihnen.« Maria übergibt ihr das leichte Bündel, in dem sich die kleine Brust kaum sichtbar mit jedem winzigen Atemzug hebt. »Oh«, macht Katja und beginnt erneut zu weinen.
Maria stellt die Kunststofftasche neben die beiden auf den Holztisch. »Ihre Sachen sind da drin. Das ist alles, was sie bei sich hatte.«
Katja stellt keine weiteren Fragen. Nicht im Angesicht dieses Geschenks, dieses erhörten Gebetes. Sie senkt den Blick und küsst das Baby auf die Stirn, während Maria, die diesen Augenblick nicht mit der Frage nach Trinkgeld ruinieren will, geduldig wartet. Dann hört Maria Feodors Schritte von hinten näher kommen, und Katja dreht sich um und zeigt ihm das Wunder, das sie schließlich doch noch erfahren dürfen.
Anna Jakow würde erst nächste Woche wieder im Büro sein. Obwohl Drews Mut sank, als sie die automatische Abwesenheitsnotiz in ihrem E-Mail-Postfach fand, hatte sie es doch fertiggebracht, eine Telefonnummer ausfindig zu machen – nur um zu erfahren, dass sie damit direkt an Anna Jakows Anrufbeantworter weitergeleitet wurde. Also musste Drew bis Montag warten, als dann auch endlich ein Faxerschien.
Ich glaube, das ist es
, hatte Anna Jakow in flüchtiger Handschrift geschrieben.
Entschuldigen Sie die Verspätung.
Die zweite Seite war mit linierten Spalten in großzügiger Schönschrift beschrieben und schien die Kopie einer Seite aus dem Geschäftsbuch zu sein. Obwohl mit dickflüssiger Tinte zu Papier gebracht, war die Schrift von der Übertragung leicht verblichen. Das Fax wäre jedoch durchaus lesbar gewesen – wenn Drew nur Russisch verstanden hätte. Einen Moment lang starrte sie es einfach nur fest und suchend an, als könnten allein Geduld und Anstrengung ihr die Worte verständlich machen.
»He, Lieutenant, gute Neuigkeiten.«
Drew blickte auf und sah Lenore in der Tür stehen.
»Ich habe schon drei Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, in denen unsere Beilage gelobt wird«, berichtete diese. Drew bemerkte, dass sie das Fax so fest in der Hand hielt, dass das hauchdünne Papier schon zerknitterte. »Natürlich allesamt von älteren Damen.« Lenore lachte, und Drew legte das Fax auf den Schreibtisch, als wäre
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