Die Tänzerin im Schnee - Roman
es nichts Wichtiges.
Normalerweise hätte sie solch eine Neuigkeit sofort verkündet. Doch nun kam es ihr eigenartigerweise so vor, als hätte das Blatt Papier, was auch immer darauf stehen mochte, gar nichts mit irgendjemandem hier zu tun, als ginge es dabei überhaupt nicht um die Auktion. Nein, Drew verspürte nicht das geringste Bedürfnis, diese Sache mit Lenore zu teilen. Stattdessen sagte sie beiläufig, als würde sie laut nachdenken: »Weißt du, ich finde, du könntest langsam aufhören, mich so zu nennen.«
Lenore schaute überrascht: »Dich … Lieutenant zu nennen – meinst du das?«
Drew nickte und lächelte leicht bei dem Gedanken, wie gut es war, endlich auszusprechen, was sie schon so lange störte. Sie hatte Lenore noch nie zuvor nervös erlebt.
»Ja, aber natürlich. Selbstverständlich. Ich wusste nicht … Tut mir leid, Drew. Wenn du mir gesagt hättest, dass du ein Problem damit hast …«
Ruhig und gelassen erwiderte Drew: »Jetzt ist es ja keins mehr.«
Lenore straffte die Schultern. »Da ist was dran.« Sie schenkte Drewein professionelles Lächeln, erinnerte sie an das Meeting um zehn Uhr dreißig und verließ das Zimmer.
Drew fühlte sich wie von einer Last befreit und wendete sich erneut dem Fax zu, das auf dem Schreibtisch auf sie wartete. Begierig, aber doch behutsam ergriff sie den Telefonhörer, um Grigori Solodin anzurufen.
Auf dem Krankenhausformular hat Vera als nächsten Angehörigen »Viktor Elsin« angegeben. Dieser Umstand geht Nina nicht aus dem Kopf, selbst als sie die nötigen Papiere unterzeichnet und das Krankenhaus wieder verlassen hat. Na gut, jetzt, da Mutter tot ist … Nicht meinen Namen, sondern den meines Ehemannes …
Nur ein langer Strich, wo der Name des Vaters hingehört.
Ich weiß, dass wir uns gestritten haben, aber trotzdem … Nächster Angehöriger.
Sie geht auf direktem Wege zu ihrer alten Wohnung – Mutters Wohnung, Veras Wohnung –, um dort nach irgendeinem Hinweis zu suchen, einem Anhaltspunkt dafür, was genau geschehen ist.
Das Zimmer hat sich verändert, wirkt karg ohne Mutters Sachen. Dasselbe alte Bett und die Holztruhe, in der einst Ninas eigene Kleider sorgfältig gefaltet aufbewahrt wurden. Jetzt befinden sich darin Decken, Fäustlinge, dicke Schals und der wollene Geruch des Winters. Dort steht Veras großer Reisekoffer. Nina öffnet ihn behutsam, schließt ihn jedoch sofort wieder, da sie den Anblick von Veras Kleidern nicht erträgt.
Sie beschließt, zunächst unter dem Feldbett nachzusehen. Dort befindet sich tatsächlich eine Kiste, die mit einem kleinen Riegel verschlossen ist. Nina schiebt ihn zurück, wischt eine Staubschicht weg und öffnet den Verschluss. Die Kiste ist vollgepackt mit gefalteten Papieren, die Nina auf der Suche nach Briefen, Liebesbriefen womöglich, hastig durchwühlt.
Aber es sind nur geschäftliche Unterlagen, Ballettverträge, Gehaltsbescheinigungen. Darunter liegen weitere offizielle Dokumente und ein Stapel Briefe, in denen es um Veras Eltern geht. Nina legt alles zurück in die Kiste und schiebt sie wieder unters Bett.
Sie erhebt sich und klopft sich den Staub von den Knien. Auf Veras Nachttischchen stehen ein Parfümflakon und eine große Palech-Schachtel.Das Tischchen hat eine kleine Schublade, die womöglich nur eine Attrappe ist – dennoch zieht Nina an dem kleinen Knauf und ist überrascht, als ihr die Schublade entgegenkommt. In ihrem flachen Kasten liegen ein Nagelknipser und ein schmales Kästchen aus Metall. Nina öffnet dessen Deckel und stößt darin auf zerrissene, vergilbte Zettel. Sie versucht, die maschinengeschriebenen Worte zu entziffern, bis ihr bewusst wird, was für Zettel es sind – was sie einmal waren. Ihr zerreißt es beinahe das Herz. Sie legt den Deckel rasch wieder auf das Kästchen, schließt die Schublade und hat erneut ein furchtbar schlechtes Gewissen.
Aber sie macht dennoch weiter und öffnet die Palech-Schachtel. Darin befindet sich eine leere, flache Schale. Ohne Erwartungen hebt sie die Schale an. Zu ihrer Überraschung findet sie darunter eine Ansammlung von Bernsteintropfen.
Sie fischt ein Armband und ein Paar Ohrringe aus der Schachtel.
Das
Armband,
die
Ohrringe – der goldgerahmte Schmuck, den Madame damals auf dem Tisch vor sich ausgebreitet hat. Nur die Kette fehlt; Nina spürt einen Stich im Herzen, als ihr klar wird, dass Vera sie getragen haben muss.
Vera hat sie getragen. Veras Armband und Ohrringe.
Nina sinkt in sich zusammen. Nein – nein.
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