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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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und dann aus dem Gebäude auf den breiten, staubigen Boulevard tritt. Bei Lydia war klar, dass sie nur hinter dem Geld her war. Maria aber wollte die Handtasche. Wunderschön, aus so feinem Leder, und wer weiß, wo man so etwas bloß herbekommt oder wie man es bezahlen soll. Wenn sie doch nur früher daran gedacht hätte, sie irgendwo zu verstecken … Stattdessen hat sie Lydia bemerkt, die sich sofort umdrehte, sah, dass Maria sie beobachtete, und den Blick nervös wieder auf die Tasche richtete. Da beschloss Maria, auf sie zuzugehen, und die beiden trafen eine Abmachung.
    Sie zogen sich in eine Kammer zurück und leerten dort hastig den Inhalt der Tasche aus, der zunächst nur aus ein paar Papieren und persönlichen Andenken zu bestehen schien, die die arme Frau mit sich herumgetragen hatte. Das meiste davon würde überhaupt kein Geld einbringen. Fotos, ein fleckiges Taschentuch, ein rosa Lippenstift, der schon fast aufgebraucht war. Aber ganz unten kamen schließlich noch ein feiner Kamm, ein Spiegeldöschen mit goldenem Puder und ein dazu passender Parfümflakon zum Vorschein. Die Geldbörse war neu und ebenfalls aus cremefarbenem Leder. Es musste sich bei diesen Dingen um Geschenke handeln von jemandem, der über Geldund Mittel verfügte. Oder vielleicht hatte die Frau sie auch für sich selbst gekauft. Sie war anscheinend eine Ballerina; Lydia behauptete, sie zu erkennen, wohingegen Maria noch nie etwas von ihr gehört hatte. Keine geringe Geldsumme im Portemonnaie. Lydia durchwühlte all die kleinen Schlitze darin, um auch ja nichts zu übersehen, und Maria tat dasselbe mit dem Inneren der Tasche.
    So fand sie die Kette.
    Ein großer, glatter Stein. Sie fingerte ihn aus der schmalen Innentasche und hielt dann inne. Sie konnte nicht genau erkennen, um was für einen Stein es sich handelte, aber sie wollte nicht riskieren, dass Lydia ihn bemerkte. Was um ihn herum schimmerte, sah wie echtes Gold aus; die Kette könnte also wirklich etwas wert sein. Vielleicht würde sie mehr dafür bekommen als für irgendeinen der anderen Gegenstände. Und so entschied sie: Das hier würde sie nicht mit Lydia teilen.
    Sie war im Begriff, die Kette zurück in die Innentasche gleiten zu lassen, da forderte Lydia sie auf: »Lass mich sehen!«, und nahm ihr die Handtasche ab. Schnell steckte Maria die Kette in ihre eigene Tasche, ein glänzendes, schlecht verarbeitetes Teil aus schwarzem Kunststoff.
    Als Lydia den gesamten Inhalt der Handtasche durchgegangen war, begann sie, alles einzusammeln, und versprach, Maria fünfzig Prozent vom Gewinn, den sie damit erzielen würde, abzugeben. Maria bezweifelte, dass Lydia ihr Versprechen halten würde. Stattdessen bot sie ihr an, das Portemonnaie, das Geld und alle anderen Wertsachen (den Kamm, das Puder und das Parfüm) zu behalten und Maria nur das zu überlassen, was sie von Anfang an mehr als alles andere gewollt hatte: die Handtasche.
    »Hier, lass uns der Ordnung halber ihre und meine Tasche tauschen. Steck einfach alles, was du nicht willst, hier rein, und ich räume mein Zeug in diese« – sie wies auf die schöne cremefarbene Tasche. Dann tauschte sie den Inhalt ihrer eigenen Kunststofftasche mit dem der Ledertasche, sorgsam darauf bedacht, dass Lydia die Kette nicht zu Gesicht bekam. Das Problem war nur, dass Maria selbst sie nicht mehr sah, als sie ihre Sachen in die Ledertasche warf. Sie drehte die Kunststofftasche um und schüttelte sie direkt über der Öffnung der Ledertasche kräftig aus. Als Nächstes packte Lydia alle wertlosenGegenstände der Frau in die billige Tasche, und damit war ihr Geschäft abgeschlossen.
    Als Maria nun in flottem Tempo durch die warme Frühlingsluft läuft, geht sie das Geschehene in Gedanken noch einmal durch. Sie hat ein Paisley-Tuch um den Kopf gewickelt, trägt über jeder Schulter eine Handtasche und hält die Arme über dem Bauch verschränkt, wo ihr Mantel die wertvollste Fracht von allen verbirgt. Sie hat bereits einmal in einer Seitengasse haltgemacht, um die Leder- und dann die Kunststofftasche noch einmal zu durchsuchen – doch sie kann diese Halskette einfach nicht mehr finden. Aber im Grunde ist es auch nicht so wichtig. Sie hat sich einer viel bedeutsameren Aufgabe angenommen und drückt das kostbare kleine Bündel fest an ihre Brust. Nahe der Metrostation Krasnije Worota biegt sie in die Kotelnitschesk ein und beschleunigt ihre Schritte, die vom Quietschen ihrer Schuhe begleitet werden. Das Geräusch erinnert sie an ein

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