Die Tänzerin im Schnee - Roman
Nein, ganz sicher nicht. Wie sollte das möglich sein? Es kann einfach nicht sein.
Aber natürlich kann es das. Selbstverständlich. Was hat sie sich nur dabei gedacht, die beiden allein zusammen in der Datscha zu lassen?
Sie lässt das Armband fallen. Nein, vielleicht ist es doch nicht so, vielleicht irrt sie sich. Denn wie hätten sie das nur tun können? Das hätten sie doch nicht gewagt? Sie zittert am ganzen Körper.
Es hat ihr nicht gereicht, Madame gegen mich aufzubringen, Viktor gegen mich aufzubringen …
Kein Wunder, dass sie sich nicht getraut hat, mit mir zu sprechen, und mir nicht einmal mehr in die Augen sehen konnte.
Und Viktor, ist er etwa gar nicht im Schriftsteller-Refugium gewesen, sondern hat seine Vera im Krankenhaus besucht? … Aber nein, das kann nicht sein, dann hätten sie ja nicht versucht, ihn zu Hause zu erreichen, und Nina hätte ihn im Krankenhaus gesehen … Nein, sie müssen daraus ein Geheimnis gemacht haben, das sie mit niemandemteilten:
Nur ein langer Strich, wo der Name des Vaters hingehört.
Ein Geheimnis – ihr Geheimnis. Und die ganze Zeit hat Nina so hart gearbeitet und war immer voller Vertrauen. Nun hat sie das Gefühl, dass ihr Herz einen Riss bekommen hat. Ja, genau das passiert gerade, so fühlt sie sich, als würde ihr Herz wie eine Nuss in zwei Teile gebrochen.
Als Nächstes überkommt sie der flüchtige, absurd scheinende Gedanke:
Mein Leben ist vorbei.
Denn wie soll sie nun zurückkehren? Wie soll sie ihr Leben weiterleben?
Sie wird ihn erwürgen, ersticken, tausend Mal auf ihn einstechen. Sie versteht jetzt, wie jemand solch eine Tat begehen kann. Ihr wird heiß vor Zorn, und ihr Gesicht brennt.
Die zwei Menschen, die ihr geblieben sind, die zwei Menschen, die sie mehr geliebt hat als alles andere … Gemeinsam, hinter ihrem Rücken. So fühlt es sich also an, wenn man betrogen wird: Ihre Brust ist in Stücke gerissen, ihr Herz herausgezerrt. Sie spürt den Schmerz in ihrem Körper – eine riesige klaffende Wunde. Sie vernimmt ein wimmerndes Geräusch. Es ist ihre eigene Stimme; sie hat begonnen zu schluchzen.
Sie weint lange, bis sie ganz heiser ist und ihr die Augen weh tun. Doch auch, als sie tief durchatmet und ganz ruhig dasitzt, still und erschöpft, hören ihre Gedanken nicht auf, sich im Kreis zu drehen.
Sie muss Viktor verlassen. Ausziehen – aber wo könnte sie hingehen, außer in diese Wohnung hier? Dieses Zimmer, das voller Sachen von Vera ist. Diesen Ort, an dem Vera und Viktor sich getroffen haben müssen, nur die beiden allein, in der Wohnung, in der Nina und Mutter einst so unschuldig zusammenlebten.
Ich muss diesen Ort verlassen, dieses Leben verlassen.
Du kannst nicht weggehen, niemand kann das, und das weißt du auch.
Ich hasse sie, hasse sie mit jeder Faser meines Körpers, ich bin erfüllt von Hass.
Ich muss fort von hier, zum Glück brechen wir morgen auf.
Ich kann ihren Anblick nicht mehr ertragen.
Ich werde verschwinden und nie wieder zurückkommen.
Sie finden dich, und dann brechen sie dir die Beine.
Ich werde diesen Ort für immer verlassen.
Unmöglich. Wie bringt man so etwas fertig? Wie entkommt man?
Sie brechen dir die Beine. Und was sollte man außerdem auch tun in einem Land, in dem einen niemand kennt und wo man nicht einmal mehr tanzen kann …
Nina sieht auf das Armband und die Ohrringe hinunter, und dann entscheidet sie sich. Sie hebt sie auf und steckt sie in ihre Tasche.
Als sie aus dem Gebäude eilt, fühlt sie sich wie in einem Film oder einem Traum, es kommt ihr jedenfalls nicht wie ihr wirkliches Leben vor. Wie benommen geht sie die Straßen entlang, vorbei an gelangweilt aussehenden Soldaten, die an einer Kreuzung stationiert sind und geistesabwesend lang und laut in ihre Pfeifen blasen, vorbei an Straßenverkäufern, die Eiscreme, Wodka und kugelrunde Wassermelonen anbieten, vorbei an der alten Frau mit der Waage, der Passanten Geld bezahlen, um sich zu wiegen – und es erscheint ihr abscheulich, dass das Leben hier draußen einfach so unbekümmert weitergeht, wo doch all diese schrecklichen Dinge geschehen sind.
Wie um sie zu bestätigen, kommt ihr plötzlich Serge entgegen. Ausgerechnet Serge … Nina hat ihn das letzte Mal auf Polinas Beerdigung gesehen, wo er weit hinten völlig unbewegt dastand und mit leicht gesenktem Kopf und dennoch irgendwie stolzer Miene zwar ein langes Gesicht machte, aber keine einzige Träne vergoss. Jetzt blickt er so ernst drein wie gewöhnlich, sieht dabei aber
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