Die Tänzerin im Schnee - Roman
an, und dort erschien ein Foto. Sie verrückte ihren Stuhl, damit Grigori es erkennen konnte, und er sah eine wunderschöne Frau, die sich in einem Proberaum gegen eine Ballettstange lehnte. Es handelte sich tatsächlich um dieselbe Frau, die auf seinem Foto abgebildet war. »Diesem Archiv zufolge war ihr Name Vera Borodina.«
»Aber das ist nicht der richtige Name.« Grigori wurde plötzlich schwindlig. »Nein, du hast recht, das ist nicht seine Frau. Es muss … jemand anderes sein.«
»Vera Borodina«, beharrte Drew. Sie schien nichts Verwirrendes an der ganzen Sache zu finden. »Meinst du, deine Tasche könnte ihr gehört haben?«
»Nein, nein«, erwiderte Grigori ruppig. »Nein, denn das hieße ja …« Aber sein Hirn kam an dieser Stelle nicht weiter. »Tut mir leid. Irgendwie bringt mich das alles ganz durcheinander.«
Drew schlug vor: »Vielleicht hat Gerschtein Vera Borodina den Anhänger gegeben, und die Tasche, die du besitzt, gehörte ihr, und die Briefe darin waren an sie gerichtet. Nicht an Nina Rewskaja.«
Grigori erinnerte sich an Katjas Worte, als sie ihm die Tasche überreicht hatte – dass seine Mutter eine Ballerina gewesen sei. »Aber – die Gedichte.« Er schloss die Augen. »Ich muss einen Augenblick darüber nachdenken.«
»Vielleicht sollten wir uns die Briefe noch einmal ansehen. Um festzustellen, ob Gerschtein sie geschrieben haben könnte.« Drew schien dieser Vorschlag keineswegs zu verstören. »Und ich werde Nina Rewskaja anrufen, für den Fall, dass sie von irgendwelchen Gerschteins in der Familie ihres Mannes weiß.« Sie verstummte kurz. »Obwohl das ja eher unwahrscheinlich ist, was meinst du? Kannst du dir vorstellen, dass ihre Freundin ihr den Schmuck gegeben hat? Zur Aufbewahrung?«
Grigori merkte, dass er mit den Zähnen knirschte. »Entschuldige, ich muss mal an die frische Luft.«
»Alles in Ordnung, Grigori?«
»Nein, nichts ist in Ordnung.« Er wandte sich zum Gehen, jedoch nicht schnell genug, um Drews Gesichtsausdruck zu übersehen, der erschrocken und verletzt war.
Ihre Beine zittern immer noch, als sie ihre Wohnung erreicht, wo sie Madame vorfindet, die in ihrem Sessel schläft und ihr lautes, trunkenes Schnarchen von sich gibt, an das sich Nina bereits gewöhnt hat. Lola sitzt ruhig auf Madames großem, dickem, unordentlichem Haarknoten und pickt auf dem Schildpattkamm herum.
Wie selbstgefällig sie dasitzt.
Viktor hat sie mitgebracht. Es sollte eine Überraschung sein.
Ihr boshaftes Lächeln.
Nina will nur ihre Reisetasche holen und sofort verschwinden. Sie sagt sich, dass ihr Schicksal es so bestimmt hat. Es gibt keinen anderen Ausweg mehr.
Sie wird sich ins Bolschoi-Theater flüchten und von dort aus direkt in den Wagen steigen, der sie zum Flughafen bringen wird. Und dann … Aber ihre Hände zittern, ihr ganzer Körper bebt.
Sie finden dich, und dann brechen sie dir die Beine.
Sie kann es sicher schaffen, andere haben es schließlich auch schon geschafft. Alles ist möglich, wenn man nur genug Bestechungsgeld hat. Und man muss einen klaren Kopf behalten. Sie eilt zu der Kiste hinüber, in der sie ihre Wertsachen aufbewahrt. Steckt sich die Smaragde in die Ohrläppchen und bindet sich die goldene Armbanduhr um. Blickt nach hinten, um sicherzugehen, dass Madame nicht aufgewacht ist. Dass Viktor in alte Gewohnheiten zurückverfallen ist, ist allein ihre Schuld; sie hat Nina an ihn verpfiffen, ihn gegen sie aufgehetzt.
Nur weg von diesem Ort. Weg von diesen Leuten.
Sie versenkt ihre Brosche und die Diamantenohrstecker von ihrer Hochzeit in den kleinen Cremetiegel in ihrem Schminkkoffer. Den Bernsteinschmuck und die kleine Malachit-Schatulle steckt sie in die Zehen von zwei dicken Wollsocken, die sie in ihre gepackte Tasche wirft. Lola sieht ihr ruhig zu und pickt erneut mit dem Schnabel auf Madames Schildpattkamm herum. Auf den kleinen Diamanten, mit denen er besetzt ist … Ach ja, danke für die Erinnerung. Nina geht hinüber und entfernt den Kamm von Madames Knoten. Immerhin könnte er sich noch als nützlich erweisen. Lola kreischt auf. Dieses lächerliche Tier lässt sich einfach nicht unterkriegen.
»S’il vous-plait!«
Madame schnarcht zwar einmal besonders laut, hebt aber in ihrer Trunkenheit nicht einmal den Kopf. Und erst da kommt Nina der Gedanke.
NICHT mein Haar berühren!
Einer plötzlichen Erkenntnis folgend, greift Nina in den unordentlichen Knoten. Sie beginnt ihn sanft zu lösen, indem sie Strähne um Strähne des grauen
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