Die Tänzerin im Schnee - Roman
Ehrlich. So wichtig ist das gar nicht. Ich habe nur gefragt, weil mir der Gedanke kam, dass ich den Anhänger – wenn ich ihn behalten hätte … dann könnte ich ihn dir schenken.«
Sie lächelte strahlend, und um ihre Augen bildeten sich kleine Fächer aus Lachfältchen.
»Jetzt kennst du das ganze Ausmaß an Verwirrung, wenn es um meinen familiären Hintergrund geht«, fügte er hinzu. »Erzähl mir von
deiner
Familie. Hast du Geschwister? Stehen du und deine Eltern euch nahe?«
Sie erzählte ihm davon, wie sie als Einzelkind aufgewachsen war und dass sie sich manchmal fragte, ob sie sich deswegen oft am wohlsten fühlte, wenn sie ganz allein war; von ihrem Vater, einem Geschäftsmann, der in British Columbia geboren und aufgewachsen war, und ihrer Mutter, die aus Finnland stammte, aber in New York groß geworden war. Die stärkste Verbindung hatte sie seit ihrer Kindheit zu ihrer Großmutter mütterlicherseits empfunden. »Ich weiß nicht genau, woran es liegt, aber ich hatte immer das Gefühl, dass wir uns sehr nahestehen. Und meine Verwandten sagen auch, wir hätten die gleichePersönlichkeit. Obwohl ihr Leben ganz anders als meines verlief.« Drew erzählte ihm von Grandma Riittas Kindheit auf dem Land und ihrem Umzug in die Stadt und dass sie nach dem Tod ihrer großen Liebe – des Vaters von Drews Mutter – ein zweites Mal geheiratet hatte. Einen Arzt, der auf Lungenkrankheiten spezialisiert war und dem eine Anstellung in einem New Yorker Krankenhaus angeboten wurde. »So sind sie in den Staaten gelandet.«
Drew zuckte kurz zusammen. »Was mich daran erinnert: Das Tagebuch, von dem ich dir erzählt habe, das von meinem Großvater. Ich habe es heute bekommen.« Sie sprang auf, um es zu holen – setzte sich aber sofort wieder und schien nachzudenken. »Weißt du, irgendwie ist es doch auch wunderbar, was du heute darüber erfahren hast, wer wirklich deine Eltern waren. Oder von wem wir annehmen, dass sie es sein könnten.«
»Ach ja?«
»Ja. Denn selbst wenn es für sie nicht gut ausgegangen ist, kann es das für dich noch immer. Du hast die Möglichkeit, das Leben zu leben, das ihnen verwehrt blieb. Du kannst es dir selbst erschaffen. Deine eigene Familie.«
Das Gefühl in Grigoris Brust wurde übermächtig; sein Herz brach und füllte sich zugleich mit etwas Neuem auf. Er streckte die Hand nach Drew aus und fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar. Sein Körper erinnerte sich nun daran, wie es sich anfühlte, was er längst vergessen hatte, und wie weh es tat, einen anderen Menschen so zu begehren, so zu brauchen. Er wanderte mit den Fingern ihren Rücken hinunter, ertastete die kleinen Erhebungen ihrer Wirbelsäule und verlor sich ganz in der Zeit, die Stunden wie Minuten verstreichen ließ. Irgendwann stand Drew auf und führte ihn in ihr Schlafzimmer, und ihn überraschte die Leichtigkeit bei alldem, obwohl ihm das, was sie begonnen hatten, wie etwas Außergewöhnliches erschien, das noch nie zuvor jemand gewagt hatte.
Von der Gemeinschaftsgarderobe aus kann sie den Ensembleleiter auf der anderen Seite der Tür hören, der vom Flur aus in die »Star«-Garderobe eilt, ihren Namen ruft und das Zimmer lautstark wieder verlässt. Es dauert nicht lange, bis er, der Komsomol-Vertreter undder Theaterleiter durch die Flure hasten und die Treppen hoch und runter trampeln. Sie haben zwei Mal unter dem Protest der Garderobiere und ein paar halbnackter Mädchen in der Gemeinschaftsgarderobe nachgesehen. Dabei haben sie nicht erklärt, was geschehen ist und nach wem sie suchen – womöglich in der Bemühung, die Illusion aufrechtzuerhalten, dass nichts Gravierendes schiefgegangen sei. Nina, die bereits in ihrem Schwanenkostüm steckt und der die Federn ihres Haarkranzes über Wangen und Ohren fallen, hat sich beide Male über ihre Spitzenschuhe gebeugt und mit unnatürlich zusammengezogenen Schultern die Enden der Bänder in die Seiten gesteckt. Der große, runde Kleiderständer in der Mitte des Raumes, der vollgehängt ist mit umgedrehten rüschenbesetzten Tutus, hilft die Sicht zu verdecken. Rechts neben Nina, unter dem Mantel der deutschen Gruppentänzerin, warten ihre Schuhe, ihr Pullover und ihr Schminkkoffer auf sie.
Bereits jetzt kommen ihr Zweifel. Und Schuldgefühle, weil sie das arme Mädchen durch Bestechung zu ihrer Komplizin gemacht hat. Was ist ein Diamant wert, egal wie groß er sein mag, wenn das Mädchen gefasst wird, wenn irgendjemand herausfindet, dass sie Nina geholfen hat? Ninas
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