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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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offizielle Mitteilung schreiben sowie einige Telefonate führen, und für einen Augenblick fragte sie sich, wo sie anfangen sollte. Es gab so viel zu sagen. Mehr, als sie in einem einzigen Gespräch erklären konnte. Aber irgendwo musste sie ja anfangen. Nina beugte sich vor und brachte die Spitze der Feder aufs Papier.
    Lieber Grigori,
begann sie.
Ich möchte dir von deiner wundervollen Mutter erzählen.
     
    Der erste Zwischenstopp ihrer Reise ist Berlin, wo Nina und Juri die beliebtesten Stellen aus
Die Schöne und das Biest
aufführen sollen. Sie haben danach nicht einmal Zeit, sich den Rest der Vorstellung anzusehen, da sie, ihrem engen Terminplan folgend, direkt vom Ballett aus aufbrechen müssen, um am nächsten Morgen in Warschau zu sein.
    Nina wünschte, sie hätte mehr Zeit zum Planen. Zeit, alles sorgfältig zu durchdenken. Sie hat die Malachit-Schatulle ganz unten in ihrem Schminkkoffer verstaut, wo immer noch der kleine zusammengerollte Zettel der alten Frau aus Westberlin mit seiner knappen Information (die nun schon recht alt ist, vielleicht zu alt) versteckt ist, neben ihren Glücksbringern, dem Nähzeug, Haarnadeln, Heftpflastern und Tuben mit Fettschminke – und dem Cremetiegel, in den sie Madames Edelsteine gesteckt hat. Auch der Schildpattkamm liegt dort neben einem alten, schlichten, ohne Diamanten. Den Bernstein hat Nina in den Saum ihrer dicken Strickjacke eingenäht. Wenn es aus irgendeinem Grund schnell gehen muss, ist sie bereit.
    »Du träumst schon wieder.« Juri gibt ihr einen freundschaftlichen Klaps auf den Kopf. Sie befinden sich im Aufwärmraum, und Juri trägt sein Prinzenkostüm, während Nina in ihrem Tutu und dem Diadem glitzert. Ihr Nacken und Rücken sind gepudert, und sie hat die Beinwärmer bis über die Knie gezogen, damit ihre Muskeln weich bleiben.
    »Tut mir leid. Keine Sorge, ich bin bereit.«
    Sie wiederholt diese Worte in Gedanken noch, nachdem sie ihre Pas de deux und die Variationen beendet haben, sogar noch, nachdem das Publikum aufgestanden ist und ihr Bravorufe und Blumensträuße entgegengeworfen hat, nachdem sie hinter die Bühne in die Garderobe für die »Stars« geeilt ist, die ihr für diesen Abend zugeteilt wurde. Sie befindet sich direkt neben der großen Gemeinschaftsgarderobe, wo sich die Gruppentänzerinnen umziehen; Nina kann sie durch die Tür hören, die ihre Garderobe von der anderen trennt.
    Ein kurzes Klopfen an der Tür zum Flur. Der Leiter des Ensembles ruft aus: »Kein Getrödel! Wir fahren in zwanzig Minuten!«
    Nina schließt die Augen und versucht nachzudenken. Wenn sie einmal diese Stadt mit ihren weniger strengen Patrouillen und ihrer unmittelbaren Nähe zur Freiheit verlassen hat, stehen ihre Chancen gleich null. Außerdem ist da der Zettel in ihrem Schminkkoffer, und sie weiß noch, wo der Laden der Frau liegt, die ihn ihr gegeben hat. Nein, sie darf nicht mit den anderen weiterreisen. Sie muss sich irgendetwas ausdenken.
    Wenn sie diesen Raum verlässt, wird man sie sehen. Und hier drin kann sie sich nirgends verstecken, außer natürlich in der angrenzenden Duschkabine – wo jeder sofort als Erstes nachschauen würde. Und wenn Nina durch die andere Tür in die Gemeinschaftsgarderobe geht … nun ja, darin wimmelt es gerade von Tänzerinnen, und die meiste Zeit über wird sie von irgendjemandem genutzt.
    »Zwanzig Minuten!«
    Die Tür zwischen Ninas und dem anderen Raum ist aus dünnem Holz, das den Rahmen nicht sauber ausfüllt; durch den Schlitz fällt Licht in ihre Garderobe, und die Geräusche des Gewimmels auf der anderen Seite dringen zu ihr hindurch. Nina kann die Stimme eines der Mädchen hören, als säße sie direkt neben ihr. Sie sagt aufgeregtetwas auf Deutsch, dann lacht ein anderes Mädchen. Sie müssen am hintersten Schminktisch sitzen, ganz am Ende der Reihe.
    Sie bringt ihr Gesicht nah an den Spalt heran und sieht hindurch. Sie kann den Raum dahinter gut erkennen, wenn er auch etwas schwach beleuchtet ist: eine vollgestopfte, geschäftige Garderobe mit einem großen, runden Kleiderständer in der Mitte und an den Wänden Schminktische, deren Spiegel mit nackten Glühbirnen umrahmt sind. Überall liegen Klamotten und Kostüme unordentlich verstreut herum. Ungefähr zwei Dutzend Mädchen sind damit beschäftigt, steife weiße Tutus überzuziehen und sich kleine Federkränze um den Kopf zu binden, deren Federn ihnen auf die Wangen hinunterhängen.
Schwanensee
. Ja, richtig: eine der Ballettmeisterinnen des

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