Die Tänzerin im Schnee - Roman
nicht.
Er führte sie so instinktiv durch das Stück, wie eine Katze den Weg zurück nach Hause findet, denkt Nina hinterher, als sie sich in der Gemeinschaftsgarderobe hastig das Tutu von den Hüften herunterzerrt. Jede Bewegung ist ihr so leichtgefallen wie Atmen und Trinken und kam ganz wie von selbst. Noch nie ist sie ihrem Körper, der vertrauten Hitze der Rampenlichter und der einprägsamen Musik, von der ihre Muskeln jeden Takt wiedererkennen, so dankbar gewesen wie heute.
Jetzt allerdings stellen sich ihre Hände ungeschickter als sonst an, während sie eilig in Rock, Schuhe und Strickjacke schlüpft. Die anderen Schwanenmädchen werden nur noch wenige Minuten auf der Bühne sein; Nina konnte einfach nicht riskieren, so kurz vor dem Vorhang länger dort zu bleiben. Als sie die Arme in ihren neuen Mantel steckt – den Mantel des deutschen Mädchens, viel weniger hübsch als ihr eigener, aber das ist natürlich auch Sinn der Sache –, hört sie das Geräusch ihres eigenen Atems, schnell und angsterfüllt. Sie muss noch einmal unsichtbar werden. Immerhin keine Spur vom Ensembleleiteroder irgendjemandem vom Komsomol; sie sind anscheinend von ihrer Suche nach ihr noch nicht zurückgekehrt.
Nina entdeckt am Ende des Flurs einen Pfeil, der zum Ausgang weist, schnappt sich ihren Schminkkoffer und wagt sich hinaus in den Korridor. Sie huscht ihn entlang bis zu der Stelle, an der er von einem kleineren, engeren und dunkleren Flur gekreuzt wird, in den sie verschwindet, um kurz abzuwarten. Bald schon hört sie Stimmen, eine kleine Gruppe Mädchen kommt den großen Flur herauf. Als sie vorbei sind, lugt sie um die Ecke und beobachtet, wie sie das Gebäude verlassen. Am Ausgang steht tatsächlich ein Wachmann, der jedoch keine von ihnen anhält. Er scheint sie zu kennen, oder zumindest zu wissen, dass Nina nicht unter ihnen ist.
Der Korridor ist nun erfüllt vom fröhlichen Stimmengewirr der Gruppentänzerinnen. Sie haben Feierabend und strömen gemeinsam zurück in die Garderobe. Nur ein paar Minuten später kommen sie wieder daraus zum Vorschein und bewegen sich in kleinen Grüppchen kichernd und plappernd den Flur hinunter auf den Ausgang zu. Vielleicht hat wirklich keine von ihnen Nina erkannt. Aber nein, irgendjemand muss doch etwas gemerkt haben … Ihre Gedanken bewegen sich im Kreis, und ihr Puls rast, während sie immer noch abwartet. Als sich eine größere Gruppe Tänzerinnen nähert, beschließt sie – und da gehen sie auch schon an ihr vorbei –, es zu versuchen.
Schnell tritt sie in den Gang hinaus und eilt hinter ihnen her, nur eine weitere gesichtslose Tänzerin, die rasch nach Hause will. Jetzt haben sie das Tor erreicht, wo der bewaffnete Wachtposten sie erwartet. Sei ganz natürlich, nicht zu hastig, du bist eine Ballerina, die gerade von der Arbeit kommt, und trägst dein kleines Köfferchen mit dem Notwendigsten bei dir … Als die Mädchen, die direkt vor ihr gehen, plötzlich über irgendetwas laut loslachen, grinst sie breit, als würde sie es auch lustig finden. Und wie im Traum zieht sie einfach an dem müden Wachmann vorbei, der nicht eine einzige von ihnen zur Befragung anhält.
Los 108
Cocktail-Ring mit Saphir und Diamanten. Quadratisch geschliffener Saphir, umfasst von 10 kleinen Diamanten (Gesamtgewicht ⅓ ct., Farbe: I, Reinheit: VSI) und 20 Saphiren im Baguetteschliff (Gesamtgewicht ⅔ ct.), Ring aus reinem 18-kt.-Gold, Größe: 15,9. 960 bis 1090 Dollar
KAPITEL 16
E rst auf der Arbeit bemerkte sie, dass sie ihren Granatring zu Hause liegenlassen hatte.
Einen Moment lang fühlte sich Drew plötzlich ganz nackt. Es war das erste Mal, dass sie es nicht noch im letzten Augenblick bemerkt hatte und zurückgegangen war, um ihn zu holen. Ihn ausgerechnet heute völlig zu vergessen … Drew war nicht abergläubisch, doch noch während sie über dieses kleine Versehen die Schultern zuckte – und ihren Computer in der Erwartung, von neuen E-Mails überschwemmt zu werden, hochfahren ließ –, fühlte sie sich irgendwie schutzlos ohne ihren Ring.
Ganz oben in ihrem Posteingang befand sich mal wieder eine von ihrer Mutter weitergeleitete Nachricht. Diesmal war es ein Spendenaufruf ihrer Freundin Germaine, deren Sohn am Boston Marathon teilnahm, um Geld für AIDS-Waisen in Uganda zu sammeln; ein Link führte zu einer Seite, auf der man an seinen Fonds spenden konnte. Auch wenn die Mitteilung an sich harmlos war, erinnerte sie Drew doch an den neuesten Klatsch, den ihre Mutter
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