Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
Brust zieht sich zusammen vor Sorge um das Mädchen wie um sich selbst.
    Sie darf jetzt nur nicht die Nerven verlieren. Mit gespielter großer Konzentration lehnt sie sich über ihre Beine und massiert ihre Waden, während die Tänzerinnen um sie herum sich herausputzen. Das erste Mal in ihrem Leben ist sie dankbar für den ausgeprägten Narzissmus, der Ballerinen eigen ist, denn jedes Mädchen in diesem Raum interessiert sich ausschließlich für sich selbst, für ihr Kostüm, ihr Haar, ihre Schminke, und nimmt die anderen um sich kaum wahr. Wann immer es aussieht, als würde eine von ihnen in ihre Richtung schauen, beginnt Nina, an ihrem gefiederten Haarband oder ihrem Knoten herumzufingern, und achtet außerdem darauf, dass immer etwas vor ihrem Gesicht hängt, als sie und die anderen Schwanenmädchen hinaus und zur Bühne gescheucht werden.
    Vom anderen Ende des Korridors dringen aufgeregte Stimmen zu Nina vor. Sie erkennt die des Bolschoi-Leiters: »Was sagen Sie da? Sind Sie sicher?«
    »Sie hat das Gebäude verlassen«, erwidert ein Mann mit starkem Akzent. »Franz hat es mir gerade mitgeteilt. Eine Frau mit einem Mantel, genau wie Sie ihn beschrieben haben.«
    Die Stimme eines dritten Mannes protestiert auf Deutsch dagegen. »Er hat es nicht gewusst«, übersetzt der zweite, während sein deutscher Kollege weiterredet. »Er sagt … er hätte schwören können, dass es eine der Tänzerinnen war, die er hier ständig ein und aus gehen sieht. Sie sah aus, als hätte sie gerade Feierabend gemacht.«
    Darauf die Stimme des Bolschoi-Leiters: »Schnell, lasst uns gehen.«
    Nina verspürt Erleichterung, auch wenn es im Gebäude sicherlich immer noch von Wachmännern wimmelt. Überdies ist sie nun hinter der Bühne inmitten der Mädchen gefangen, einem Haufen Schwäne, die auf ihren Auftritt warten – und sosehr sie auch versuchen mag, sich unter ihnen zu verstecken, bevor sie sich davonschleicht, besteht doch stets die Gefahr, dass jemand sie erkennt, falls er sich die Zeit nehmen sollte, sie genauer anzusehen. Andererseits hat niemand hier Nina je von nahem gesehen, und bestimmt werden alle Blicke auf die beiden Solotänzer (erst Siegfried, dann folgt Odettes großer Auftritt) gerichtet sein und nicht auf die vielen Schwäne um sie herum. Das Liebesduett ist einer der Höhepunkte, und wahrhaft große Tänzer verlieren nie die Aufmerksamkeit ihres Publikums. Und selbst wenn einige Ballettfanatiker unter den Zuschauern Nina erkennen sollten, wissen die Theaterwachmänner doch höchstwahrscheinlich nicht, wie sie aussieht. Ohne den Bolschoi-Leiter und seinen Assistenten befinden sich außerdem noch weniger Menschen im Gebäude, die sie je persönlich gesehen haben. Wenn sie nur eine Möglichkeit findet, sich heimlich davonzumachen.
    Das Berliner Mädchen, ihre Retterin, hat Nina erklärt, welchen Platz sie in der Aufstellung einnimmt – glücklicherweise befindet sich dieser ganz am Ende der Gruppentänzerinnen, also muss sie den »Tanz der kleinen Schwäne« nicht mittanzen. Das Mädchen scheint wirklich eine Anfängerin zu sein. Nina nimmt ihren Platz ein, als würde sie in der Zeit zurücktreten, in ihre Anfangstage, als sie glücklich und aufgeregt war und der Reifrock aus Tüll ihr um die Beine raschelte. Doch das ängstliche Zittern, das die Schwäne darstellen müssen, ist für Nina heute Abend ganz real – nicht nur Lampenfieber,sondern wahrhaftige, schreckliche Angst. Sie ist geradezu starr vor Schreck, wie sie entsetzt feststellen muss.
    Zum ersten Mal seit Jahren muss sie wieder im Gleichklang mit den anderen tanzen, die Position von Armen und Beinen sorgfältig koordinieren, sogar das Beugen des Kopfes, jede kleine Bewegung muss der Bewegung der anderen Schwäne entsprechen – sie darf nicht hervorstechen, keinen eigenen Stil und keine besondere Begabung zeigen und muss damit das genaue Gegenteil einer Primaballerina sein. In gewisser Weise ist die heutige Rolle die bisher größte Herausforderung in ihrer Karriere: sie muss all ihre Übung wieder verlernen, all die Fähigkeiten verstecken, die sie berühmt gemacht haben, um zwar gut genug zu sein, aber nicht zu gut. Sie betet darum, dass ihr Körper weiß, was er tun muss, sich unterordnet, sein Können unterdrückt – und dass niemand den neuen Schwan ganz hinten zu genau in Augenschein nimmt. Bisher scheint es zu klappen. Sogar hier, eng zusammengedrängt hinter den Kulissen, sind die anderen Schwanenmädchen noch zu beschäftigt mit ihren

Weitere Kostenlose Bücher