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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Schuhbändern und Haarnadeln, um ein unbekanntes Gesicht unter ihnen wahrzunehmen. Die Bühnenarbeiter sind ebenfalls so tief in ihre Arbeit versunken, diskutieren über Requisiten, Licht und Vorhänge, dass niemand von ihnen sich um die Tänzerinnen schert.
    Nina hält den Kopf gesenkt und tut so, als müsste sie ihre Federn zurechtzupfen. Falls eins der Mädchen sie erkennen sollte, nimmt sie sich vor, einfach selbstbewusst zu zwinkern, als wäre alles abgesprochen und nichts als ein kleiner Streich. Aber dazu kommt es gar nicht: ihr Einsatz erklingt, und Nina strömt mit den anderen Schwänen gemeinsam auf die Bühne.
     
    Das Sonnenlicht erstreckte sich in dem vertrauten Streifen über die verschlissene lila Tagesdecke. Drew eilte daran vorbei, schnappte sich ihre Tasche und rief: »Tut mir leid, heute wird den ganzen Tag über ziemlich viel los sein.« Obwohl die Auktion erst um vier Uhr begann, hatte sie vorher noch so viele Dinge zu erledigen.
    Grigori nickte und nahm seinen Mantel von dem riesigen Sofa. »Ich wollte mit einem Freund zusammen zur Auktion gehen. Aber keine Sorge, ich weiß, dass du beschäftigt sein wirst.«
    Drew musste lächeln, als sie ihn dort stehen sah. »Komm doch danach zu mir. Ich werde nur zirka eine Stunde brauchen, um alles abzuwickeln.«
    So natürlich es sich auch gerade anfühlte, dies zu sagen, spürte sie doch auch noch etwas anderes in ihr aufsteigen, ein Gefühl zwischen Angst und Aufregung, vermischt mit Unglauben darüber, dass das tatsächlich sie war, Drew, die sich auf eine andere Person zu bewegt hatte. Noch in diesem Augenblick, in dem sie sich gemeinsam mit ihm in ihrer Wohnung befand, fühlte sie nicht nur Wärme, sondern auch eine Art Entblößung – ihr Selbst lag offen und verletzlich da. Es war schon so lange her, seit ihr das letzte Mal etwas Vergleichbares widerfahren war. Die Fremdheit des Gefühls selbst verunsicherte sie, obwohl es sie im gleichen Augenblick mit Hoffnung erfüllte. Frisch gehäutet, ja, so in etwa fühlte sie sich: ihre alte Haut war heruntergerissen worden, und darunter war eine neue, noch ganz empfindliche Haut zum Vorschein gekommen. Und bot ebenso viel Potential für Schmerzen wie für Zärtlichkeit und Liebe.
    Grigori half ihr in den Mantel und hielt kurz inne, um sie mit einem kleinen Lächeln zu betrachten. Sie wollten gerade zur Tür hinaustreten, da zögerte er. »Du wolltest mir doch noch etwas zeigen. Das Tagebuch deines Großvaters.«
    »Ach ja, richtig!« Das Päckchen war gestern erst mit der Post gekommen, ein kleiner gepolsterter Umschlag, den ihre Mutter an sie adressiert hatte. Es kam ihr vor, als wären Jahre vergangen, seit sie davon erzählt hatte. Heute schien meilenweit entfernt von gestern.
    Das Tagebuch war ein kleines quadratisches Büchlein, schmal genug, um in einer Manteltasche zu verschwinden. Als sie es Grigori zeigte, berührte es Drew, auch nur durch die vielen leer gebliebenen Seiten am Ende zu blättern. »Er starb, kurz nachdem er es begonnen hatte. Ich erinnere mich daran, wie meine Großmutter es mir zum ersten Mal zeigte.«
    Grigori nahm es behutsam, sah sich die erste beschriebene Seite an und nickte dann, wie um auszudrücken, dass er sich der Aufgabe gewachsen fühlte. »Darf ich es mitnehmen?«
    Sie erlaubte es ihm, und dann verließen sie gemeinsam das Haus und traten hinaus in die Myrtle Street, wo sie von beinahe schon warmerLuft voller feuchter, frühlingshafter Süße empfangen wurden. Eltern, die mit ihren Kindern zum Spielplatz spazierten, ließen die leichte Brise durch ihre geöffneten Mäntel wehen. Man konnte kaum glauben, dass es erst zwei Tage zuvor geschneit hatte, einer dieser Last-Minute-Wintereinbrüche im März, mit dicken, schweren, nassen Flocken, die alle Straßen verdreckten, bevor sie schnell wieder wegschmolzen.
    Seine warme Hand lag in ihrer, als sie die Down Street in Richtung Common hinuntergingen, von wo aus Grigori mit der Green Line nach Hause fahren konnte. Und obwohl Drew gern mit ihm zusammen die zwei Stationen zu Beller gefahren wäre, einfach, um noch ein wenig länger in seiner Gesellschaft zu sein, entschloss sie sich zu laufen. Im hellen Sonnenlicht und in der annähernd warmen Luft wollte sie – ohne einen Haufen Fremder und den Lärm der Hauptverkehrszeit um sich herum – diese neue, seltsam ruhige, freudige Erregung genießen, dieses verwirrende Gefühl, dass sie zuletzt doch irgendwie dort gelandet war, wo sie hingehörte.
     
    Der Körper vergisst

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