Die Tänzerin im Schnee - Roman
gewappnet?
»Hallo?«
Ihre Stimme – Drews Stimme.
»Ich bin’s. Grigori. Ich wollte mich entschuldigen.«
Eine qualvoll lange Pause. Aber dann vernahm er wieder ihre Stimme: »Komm hoch.«
Als er den obersten Treppenabsatz erreicht hatte, sah er sie schon im Türrahmen stehen. Sie trug das grüne Strickkleid, das er schon einmal an ihr gesehen hatte, allerdings ohne Stiefel und Strümpfe, und stand einfach barfuß auf dem abgenutzten Fußboden. Grigori blieb stehen, er hatte Angst, auf sie zuzugehen. »Tut mir leid, dass ich einfach so abgehauen bin. Das ist eigentlich gar nicht meine Art.«
Sie bat ihn mit einer Handbewegung wortlos hinein.
»Ich musste mir diese Briefe noch einmal anschauen«, erklärte er. »Was du darüber gesagt hast, wer sie geschrieben haben könnte und an wen … Das ergibt Sinn. Obwohl ich befürchte, dass ich noch ein paar Fragen zu den Gedichten habe.«
Sie nickte und sagte mit matter Stimme: »Hier, setz dich doch.«
Er setzte sich neben sie auf das große, etwas plumpe Sofa. »Aber schau, als ich dir erzählt habe, dass ich die Handtasche mit den Briefen, den Fotografien und der Kette von einem Verwandten bekommen habe, habe ich verschwiegen, dass die Person, die sie mir gegeben hat, meine Mutter war. Meine Adoptivmutter. Sie erzählte mir, die Tasche habe meiner leiblichen Mutter gehört.«
»Oh.« Drews Gesicht erhellte sich. »Jetzt verstehe ich.«
»Deshalb komme ich mir so lächerlich vor. All die Jahre habe ich geglaubt, ich sei … jemand anderes.«
Drew nickte langsam.
»Ich habe einen Mythos um meine Vergangenheit erschaffen. Ich habe immer zurückgeblickt und versucht, auf etwas aufzubauen, das – wie sich jetzt zeigt – so gar nicht stattgefunden hat. Und … weißt du, meine Eltern sind gestorben, als ich noch jung war, und sosehr ich sie auch vermisst habe, hatte ich solches Glück, als ich meine Frau traf, sie ist zu meiner Familie geworden – und dann habe ich auch sie verloren. Und jetzt fühlt es sich so an, als würde ich im Grunde schon wieder jemanden verlieren. Diese andere Familie, die ich zu haben glaubte.« Er dachte kurz nach und lachte dann leise auf. »Wie dumm von mir, ich weiß. Aber ich hatte diese Vorstellung davon, wer ich war, die sich darauf gründete, was ich von meinen leiblichen Eltern zu wissen glaubte.«
»Das ist nicht dumm. Ich finde das völlig verständlich. Aber was ändert sich denn nun eigentlich wirklich?«
»Wahrscheinlich ändert es nur meinen Glauben an meine eigenen deduktiven Fähigkeiten.« Grigori musste kurz lachen. »Ich habe so vieles falsch gelesen. Vielleicht sogar alles.«
Drew blickte auf und sah ihm in die Augen. »Ich suche nach einer Ähnlichkeit. Ich will sehen, ob ich Gerschtein und diese wunderschöne Ballerina in dir wiederfinden kann.« Ein kleines, nur angedeutetes Lächeln: »Aber was ich sehe, das bist du.«
Diese unglaubliche Liebenswürdigkeit. Das Gefühl, das sich in Grigoris Brust ausbreitete, war beinahe schmerzhaft. »Weißt du, was ich mir gerade wünsche?«, fragte er. »Ich wünschte, ich hätte den Anhänger behalten.«
Sie machte ein langes Gesicht.
»Was ist los?«
»Das hast du nicht ernst gemeint, oder?«
»Na ja, nein, nicht so richtig. Denn dann hätte ich dich ja nie kennengelernt. Ich meinte nur« – er dachte kurz nach – »also, was wäre, wenn ich ihn … von der Auktion zurückziehen wollte? Ist das möglich?«
»Nun, ja. Allerdings müsstest du ein Bußgeld zahlen.«
Er fragte sie, wie hoch dieses ausfallen würde.
»Fünfunddreißig Prozent des geschätzten Mittelwerts. Bei dem Anhänger lag dieser Wert bei ungefähr siebenundachtzigtausend. Das bedeutet, du müsstest dafür –«
Grigori seufzte. »Schon gut.«
»Tut mir leid«, flüsterte Drew. »Ich dachte, das wäre dir bewusst.«
»Und eine andere Möglichkeit gibt es nicht?«, fragte er nachdenklich. »Ein Stück wieder zurückzuziehen?«
»Na ja, manche Dinge werden aus der Auktion genommen, weil sie verlorengehen, oder nicht unbedingt verloren, aber wenn sie bei der Bestandsaufnahme nicht auffindbar sind, werden wir nicht versuchen, sie zu verkaufen. Aber, nun ja …« Sie schaute auf ihre Füße, zog die Stirn in Falten, und Grigori befürchtete einen Moment lang, sie wolle den Anhänger selbst verschwinden lassen. Ihm kam der phantastische Gedanke: »Das würde sie also für mich tun«, obwohl er wusste, dass es wohl nicht ganz so war.
»Drew, bitte mach dir keine Sorgen, es ist schon in Ordnung.
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