Die Tänzerin im Schnee - Roman
unlängst ausgeplaudert hatte: dass Eric und Karen, die offenbar Langstreckenläuferin war, für den Dublin Marathon im nächsten Herbst trainierten. Zutiefst verärgert zog Drew in Erwägung, ihrer Mutter noch einmal eine kurze, bestimmte Erinnerung zu schreiben, dass sie ihr E-Mails dieser Art, wenn überhaupt, nur an ihre private Adresse senden sollte.
Aber irgendetwas hielt Drew davon ab, ihrem ersten Impuls zu folgen – und legte sogar den Impuls selbst lahm. Es hatte eindeutig mit Grigori zu tun. Nicht nur damit, wie glücklich sie beim Gedanken an ihn war, sondern auch mit dem, was er ihr gestern erzählt hatte: über seine Eltern, seine Adoption, seine Sehnsucht und seine Verwirrung und über diese lange, letzten Endes unbefriedigende Suche. Wie gut Drew im Grunde dran war, dass sie diese Mutter hatte, diese beständige, verlässliche, wenn auch von Zeit zu Zeit nervtötende Präsenz in ihrem Leben – diese Mutter, der man wie so vielen Müttern alles verdankteund genauso viel übelnahm. Sie konnte sich glücklich schätzen, durch diese Mutter die komplizierten Feinheiten von wahrer und wahrhaft vielschichtiger Liebe erfahren zu haben.
Und wahrscheinlich hatte auch ihre Mutter sich mit all diesen Gefühlen herumschlagen müssen. Drew stellte sich Grandma Riitta vor und dass selbst sie – mit ihrem starken Willen, ihrer unerschütterlichen Direktheit, ihrer Verschwiegenheit in Bezug auf persönliche Dinge – ihre Tochter hin und wieder zur Verzweiflung gebracht haben musste. Hatte Drews Mutter nicht zum Teil auch deshalb ihre Vergangenheit so starrköpfig ignoriert? Sich von ihrer Muttersprache und von ihrer eigenen Geschichte abgewandt. Den letzten Rest von Fremdartigkeit ausgelöscht, als sie ihre Tochter »Drew« nannte.
Bei diesen Gedanken empfand Drew mehr als ihr übliches resigniertes Verständnis. Sie nahm den Telefonhörer vom Apparat und wählte die Nummer ihrer Eltern.
Als sie am anderen Ende der Leitung die Stimme ihrer Mutter vernahm, bedankte sie sich als Erstes für das Tagebuch. »Ich habe es schon jemandem zum Übersetzen gegeben.«
Ihre Mutter antwortete in einem munteren, unbeschwerten Tonfall, als hätte das Ganze für sie keine große Bedeutung: »Na ja, dann sag mir mal Bescheid, wenn du etwas herausfindest.«
Drew sprach aus, was sie sich überlegt hatte: »Ich dachte, wir könnten es gemeinsam lesen.«
Ihre Mutter war hörbar überrascht.
»Ich wollte die Übersetzung mitbringen, wenn ich zu euch fahre«, fuhr Drew fort.
»Oh, du kommst uns also besuchen?«
»Ich könnte zu Dads Geburtstag kommen.« Die Idee hatte sich soeben erst in ihr verfestigt. »Der ist ja an einem Sonntag, und am Montag darauf habe ich frei, weil Patriots’ Day ist.«
»Patriots’ Day …«
»Und als Geschenk für ihn habe ich mir überlegt –«
»Er wird sich riesig freuen, wenn er hört, dass du kommst!«
Drew wartete darauf, dass ihre Mutter sagte, sie freue sich auch. Zwar drückte sie es im Verlauf des Gesprächs nicht mit genau diesenWorten aus, doch ihr Tonfall schien zu verraten, dass sie tatsächlich so empfand.
Grigori schwebte wie im Traum durch diesen Vormittag. Seltsam, wie eine einzige Sache, eine wundervolle Sache, alles verändern und den Eindruck erwecken konnte, dass nichts auf der ganzen Welt, weder Güte noch Glück, unerreichbar war. Denn wenn ihm das passieren konnte – wenn er, Grigori Solodin, fünfzigjähriger Witwer, noch einmal die Liebe erleben durfte –, warum sollte dann nicht auch anderen Menschen Gutes widerfahren?
Wie zur Bestätigung dieser Gedanken wartete auf seinem Anrufbeantworter die Nachricht von einem Verlagslektor auf ihn, der an Zoltans Gedichten interessiert war. Er begann gerade, bei einem angesehenen Verlag unter einem eigenen Imprint eine neue Reihe mit Übersetzungen herauszugeben. »Ich bewundere Zoltan Romhanys Arbeit schon lange und würde seine neuen Gedichte wahnsinnig gern veröffentlichen«, erklärte er weiter. »Packen wir’s an!«
Erfüllt von einer Leichtigkeit, die er so noch nie zuvor verspürt hatte, bemerkte Grigori noch eine andere Regung in seinem Herzen, noch eine andere Art von Befreiung. Es hatte mit den Briefen und den Gedichten zu tun, damit, wie diese Texte sich ergänzten. Falls die Briefe wirklich nicht von Viktor Elsin stammten, konnte Grigori trotzdem nicht ausschließen, dass Elsin sie gelesen oder ihnen sogar einige Bilder entliehen hatte. Aber nun hatte er das Gefühl, dass die Existenz der Briefe an sich viel
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