Die Tänzerin im Schnee - Roman
bedeutsamer war – dass sie echt waren und das wahre Leben von jemandem in dessen wahrhaftigen Worten abbildeten.
Wessen
Leben und
wessen
Worte es waren, würde er wohl nie mit Gewissheit herausbekommen, sosehr er sich auch noch immer nach diesem Wissen sehnte. Doch dieser Wunsch wurde nunmehr von einem noch größeren in den Schatten gestellt und von einem Verständnis, das Grigori unterbewusst wohl schon seit langem besaß. Das Verständnis der Tatsache, dass diese Ungewissheiten zum Mysterium des Lebens gehörten und immer neben den Dingen existieren würden, die sicher waren: seine Liebe zu Christine und jetzt Drew, seine Freundschaften, seine Passionen. Natürlich konnte Grigori sich die Gedichte erneut vornehmen, sie noch obsessiver untersuchen und versuchen, die Antwort zumindest für sich selbst zu finden.Doch wenn sie ihn auch immer noch reizte und verwirrte, nagte diese Frage nicht länger an ihm. Selbst sein Körper fühlte sich leichter an, wie befreit.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und zog das kleine Tagebuch hervor, das Drew ihm gegeben hatte. Er war gleich zu einem beruflichen Mittagessen verabredet, wollte es aber zumindest rasch überfliegen und schauen, ob die Handschrift zu entziffern war und wie schwierig sich die Aufgabe gestalten würde.
Zwischen den Buchdeckeln erwartete ihn die typische Schrift, wie man sie als sowjetischer Schüler beigebracht bekam: klein, ohne Rand, jeden Millimeter und beide Seiten des Blattes ausnutzend.
Ich schreibe dieses Tagebuch für meine Tochter Elli, die jetzt zwei Tage alt ist.
Ich bin 1910 in einem Dorf in der Ukraine geboren worden, das nicht weit von Sumy entfernt liegt. Das Dorf war gar nicht mal so klein, aber glaub mir, jeder Fremde, der einen Fuß dort hineinsetzte, war eine große Neuigkeit. Wir waren nämlich weit, weit weg von irgendeiner größeren Stadt, oder auch nur einer kleinen und nicht so leicht zu finden, wenn man nicht sorgfältig suchte. Allerdings ein wirklich hübscher Ort mit riesigen alten Bäumen, die sich vor dir verneigten, wenn du den braunen Feldweg entlanggeritten kamst. Im Winter war das Klima rau, aber im März konntest du schon kleine grüne Pünktchen erkennen, die so hoffnungsvoll aus der Erde lugten, und dann wusstest du, dass du den Winter überstanden hattest und wie durch ein Wunder wieder der Frühling kam.
Nach der sechsten Klasse konnte ich nicht mehr zur Schule gehen, weil Papa starb und ich und meine Brüder für Mama seinen Platz auf dem Hof einnehmen mussten. Das ist wirklich schade, weil ich die Schule mochte, besonders Lesen und Schreiben, obwohl wir kaum Bücher hatten und es nur eine Lehrerin gab, die uns alles beibrachte, was man wissen musste. Aber wir waren gute Bauern und hatten auch Glück. Als ich fünfzehn war, konnten wir schließlich noch mehr Land pachten, und zur Erntezeit beschäftigten wir sogar ein paar Hilfsarbeiter. Es ging uns sehr gut, damit will ich sagen, dass wir immer genug zu essen hatten, auch wenn nie Geld übrigblieb. Weil ich der Älteste war,
war ich sozusagen der Verwalter. Ich habe ein paar Hütten gebaut und Mägde und Knechte angestellt und den Hof ziemlich gut geführt, wenn ich das mal so sagen darf. Aber ich hab nie gern Leute herumkommandiert; wenn es also ein Problem gab, hab ich lustige Nachrichten und kleine Verse geschrieben und sie wie Liebesbriefchen herumliegen lassen.
Grigori stellte fest, dass er schon seit einer Weile lächelte. Dieser Mann war auf seine Art auch ein Dichter. Erstaunlich, wie klar und deutlich er – Grigori – so viele Jahre später dessen Stimme vernehmen konnte. Die Stimme des Mannes, ohne den es Drew nie gegeben hätte.
Dann haben wir hier und da etwas gehört, und irgendwann wurden es immer mehr Nachrichten über Leute, die ihre Höfe und ihre Traktoren und sogar ihr Zuhause verlassen mussten, um gemeinsam in Kolchosen zu arbeiten. Wir haben zwar davon gehört, aber nichts davon gesehen. Ich habe mich gefragt, was ich tun würde, wenn jemand versuchen würde, uns unser Land wegzunehmen. Und dann kamen in dem Frühjahr, als ich einundzwanzig war, ein paar Männer ins Dorf, und ehe wir wussten, wie uns geschah, waren die reichsten Bauern der Umgebung verschwunden, die Schewtschenkos und die Iljitschows, weil sie nämlich Kulaken waren. Die wurden rausgeworfen, und das meiste, was sie besaßen, nahm man ihnen weg. Na ja, wir anderen hatten zwar Angst, aber wir waren auch wütend, und ich habe einige Versammlungen
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