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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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krank, weil ich damals in den Bernsteinminen so viel Staub eingeatmet habe. Also mache ich jetzt eine Pause, und nächstes Mal erzähle ich dir alles darüber, wie ich hier mit deiner Mama ein neues Leben begonnen habe.
    Diese Welt hat mir neun Leben geschenkt
    Das erste als Säugling an der süßen Brust meiner Mama
    Dann als Junge in einem Haus voller Fliegen
    Dann ein großer Bruder und dann ein junger Mann
    Am See, wo die Frösche Zeugen meines ersten Kusses waren.
    Dann als Verwalter von zweihundert Desjatinen.
    War der Ehemann eines Mädchens mit einem Kranz im Haar
    Und der Papa einer Tochter mit kornblumenblauen Augen.
    Dann kam das Gefängnis. Viele Winter hab ich gezittert
    Und die Zeit wie eine Schnecke vorbeikriechen sehen.
    Dieses Leben ist mein neuntes. Diese Familie mein süßes Nest.
    Jeder Tag ein Ort, an den ich meinen neuen, warmen Mantel hängen kann.
    Ein Gedicht für Elli. Geschrieben von deinem Papa
    Die restlichen Seiten waren leer. Eine Weile saß Grigori einfach nur da und starrte auf die alte verblasste Tinte auf dem leicht vergilbten Papier. Es ist wahr, dachte er: wir sind alle miteinander verbunden. Und für diese Erkenntnis habe ich fünfzig Jahre gebraucht … Er merkte, dass ihm die Tränen in den Augen standen, und wischte sie mit einem Taschentuch trocken. Dieses plötzliche Abreißen war es wohl, was ihn zum Weinen brachte, sagte er sich: noch ein Leben, das ein abruptes Ende fand. Er blätterte zurück zur ersten Seite, um zu sehen, wann der erste Eintrag geschrieben worden war. Er fand jedoch kein Datum.
    Grigori las noch einmal alles von Anfang an. Erstaunlich, wie nur ein paar kurze Seiten so viel über die Person verrieten, die sie verfasst hatte: seine Weltanschauung, seine Gutmütigkeit und, auch wenn es ihm an Bildung mangelte, sein Gespür für Sprache. Die freien Seiten am Schluss waren nicht länger einfach nur unbeschrieben – ihre Leere war geradezu schmerzhaft. Grigori empfand eine Neugier, die er von seiner Arbeit mit Elsins Gedichten kannte, nur war sie diesmal weniger bedürftig – eher begeistert. Die Worte dieses anderen Mannes, rein und unverändert; der Mann selbst, reduziert auf die Sprache, über die er verfügte … In seinen Worten ging es nicht um Kunst, sondern allein um die Wahrheit, und gerade deshalb besaßen sie auf ihre eigene Art die Schönheit der Kunst.
    Dieser Mann, Drews Großvater. Der Vater ihrer Mutter, ein ungebildeter Mann, ein Bauer, ein Häftling. Ein Mann mit Sinn für Humor, ein Mann, der verstand, wie wichtig es war, sich die Zeit zum Niederschreiben seiner Gedanken, seines Lebens zu nehmen. Wie viele andere Männer, die so waren wie er, unwissend und unausgebildet, hatten solche Dokumente hinterlassen? Grigori musste an die KGB-Archive denken, die seit kurzem öffentlich zugänglich waren, und an die vielen beschlagnahmten Tagebücher und Briefe, die darinliegen mussten, Aufzeichnungen, die so wichtig waren wie jedes einzelne von Viktor Elsins Gedichten. Die Geschichten wie vieler anderer Menschen waren dort wohl untergebracht, die nur darauf warteten, gelesen zu werden? Die darauf warteten, dass jemand wie Grigori sie prüfte und der Welt von ihnen Kunde gab.
    Erfüllt von neuer Energie machte er sich an die Übersetzung der wenigen Seiten des Tagebuchs. Es würde sein Geschenk (ihm kamen die Worte »mein erstes Geschenk« in den Sinn) an Drew werden.
    Im Auktionssaal füllten sich die Sitze bereits um drei Uhr nachmittags. Die Leute schauten sich suchend um, als hofften sie wider besseres Wissen, Nina Rewskaja selbst irgendwo zu erspähen. Drew entdeckte ein paar bekannte Gesichter, Geschäftsleute und private Käufer: den gutaussehenden Händler aus D. C., der auf Diamanten spezialisiert war; die Dame mittleren Alters, die jedes Mal bei ungefähr zwanzig Halsketten mitbot, aber nur selten den Zuschlag erteilt bekam; den jungen Millionär, der zu jeder Auktion eine neue Freundin mitbrachte, egal ob es um Schmuck oder Möbel oder Wein ging; und den dünnen, kahlköpfigen Typen, der nie ein Gebot abgab, sondern nur am Buffet herumstand und die kostenlosen Horsd’œuvres verschlang. Heute hatten die Caterer eine Salatplatte und hauchzarte Zimtplätzchen nebst gewaltigen Kaffeemaschinen aufgetischt. Einer der Wasserkrüge musste bereits neu aufgefüllt werden. Drew machte eine Praktikantin darauf aufmerksam.
    Seit dem Morgen hatte sie nicht mehr mit Lenore gesprochen. Doch als der Auktionsbeginn immer näher rückte, schien es, als

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