Die Tänzerin im Schnee - Roman
ihrem Finger ein kleiner Quell der Zuversicht geworden war.
Drew drehte sich auf dem Polster herum, um an ihrem Drink zu nippen, einem Fingerbreit Bourbon in einem kleinen, niedrigen Glas. Das Getränk hatte genau dieselbe Farbe wie der Bernsteinanhänger, wenn auch natürlich ohne die verborgene Überraschung, dieses fastschockierende Schauspiel im Inneren. Drew musste wieder an Nina Rewskajas Armband und die Ohrringe denken und fragte sich, ob zu dem ursprünglichen Set sogar noch mehr Stücke gehört haben könnten. Falls ja und falls es sie noch gab, war es möglich, wenn auch unwahrscheinlich, dass Drew sie finden und auf dem Weg die Antworten auf ihre Fragen finden könnte. Sie musste nur für alle Möglichkeiten offen bleiben, ihre Fühler in alle Richtungen ausstrecken, ohne die Fakten aus dem Blick zu verlieren. Musste dafür sorgen, dass sie keinen Hinweis übersah, keine noch so kleine Andeutung, die ihr weiterhelfen konnte.
Besonders viel von dem auch »Litauer Gold« genannten Bernstein stammt aus dem Ostseeraum südlich von Finnland und Schweden und östlich oder nördlich von Gda#sk, von den Küsten der Ostsee oder aus den Wäldern Dänemarks, Norwegens und Englands. Bernstein kann auch im Tagebau gefördert werden: Dazu wird Glaukonitsand mit Schaufel- und Schwimmbaggern ausgehoben und der Bernstein mit Hilfe von Wasser herausgewaschen und anschließend nachbearbeitet. In der Ukraine findet sich Bernstein in Sumpfwäldern nahe der polnischen Grenze. Es gibt ihn in vielen Farben, wie man im rekonstruierten Bernsteinzimmer in der Sommerresidenz Katharinas der Großen in Zarskoje Selo sehen kann.
»Einzelne Abbaustätten nachweisbar?« Drew mochte das Kratzen ihres Füllers auf dem Papier, das leichte Vibrieren, das sich beim Schreiben auf ihre Hand übertrug. Sie schrieb mit einem alten Patronenfüller, den sie wundersamerweise in all den Jahren nie verlegt hatte. Das Geräusch und das Gefühl gaben ihr Sicherheit, lieferten eine Bestätigung ihrer konkreten Existenz – den Nachweis, dass Drew und der Füller Teil der realen Welt waren.
Von allen Fundstellen für Bernstein ist die Küste von Kaliningrad die ergiebigste. Die Wellen der Ostsee lösen dort das fossile Harz aus dem Meeresboden und tragen es dem Ufer zu. Bei Ebbe durchkämmen Sammler das flache Wasser mit Netzen und Harken und lösen kleine Brocken aus Schlick und Seetang.
Drew sah die kostbaren, schimmernden Tropfen wieder vor sich, mit der für Bernsteinschmuck so ungewöhnlichen Fassung aus Goldgeflecht in der Form verschlungener Ranken. Eine verblüffende Kombination:virtuose menschliche Handarbeit, die kleine, von der Natur geschaffene Schmuckstücke rahmte. Sie fragte sich, wer sie in Auftrag gegeben haben mochte oder ob der Juwelier sich ihre Form selbst ausgedacht hatte. Vor ihrem inneren Auge sah sie Kutschen auf dem Weg zu Landsitzen, winterliche Fahrten im Pferdeschlitten, Männer mit buschigen Fellmützen über den Ohren und Frauen, die ihre Hände in riesigen Muffs verbargen. Seit sie sich mit Nina Rewskajas Schmuck beschäftigte, las sie Erzählungen von Tschechow in einem kleinen Bändchen, das schon immer in ihrem Besitz gewesen zu sein schien, mit der Federzeichnung einer Landschaft auf dem Einband. Schmale, kleine Lettern saßen dicht gedrängt auf den vergilbten Seiten. Doch obwohl Drew klar war, dass die Geschichten aus längst vergangenen Zeiten stammten, konnte sie sich gut mit den Figuren identifizieren, den verwirrten Provinzlehrern und gegen ihren Willen verlobten Töchtern, den alternden Witwen und armen Landarbeitern, deren größtes Unglück darin bestand, einfach nur menschlich zu sein – sich zu verlieben und zu entfremden, alt zu werden oder jung zu sterben. Jeden Abend hatte sie ein oder zwei Erzählungen gelesen und beim Einschlafen das Gefühl gehabt, sie wäre all diesen Figuren wirklich begegnet, hätte Freud und Leid mit ihnen geteilt. Manchmal sah sie, wenn ihr die Augen zufielen, ein Bild ihres russischen Großvaters vor sich, mit einem zerfurchten Gesicht, dichten Augenbrauen und einem spitzbübischen Lächeln unter der Pelzmütze. In Wirklichkeit hatte sie nie eine Fotografie von ihm zu Gesicht bekommen. Grandma Riitta hatte eine besessen, die aber bei ihrer Übersiedlung in die Staaten verlorengegangen war.
Mit seinem hohen Anteil an Succinylsäure unterscheidet sich Baltischer Bernstein deutlich von allen anderen Sorten. Zu Beginn seiner Entwicklung ist er gelblich, wird im Laufe der
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