Die Tänzerin im Schnee - Roman
einer Haube aus Neuschnee ein großer schwarzer Pobeda. Die Männer fegen mit bloßen Händen den Schnee beiseite, bis das Auto in seiner ganzen rundlichen, glänzenden Pracht zu sehen ist. »Nur herein!«, ruft Frolow und öffnet die Tür zur Rückbank.
Drei der anderen zwängen sich gemeinsam auf die vorderen Sitze, und Nina befürchtet zuerst, auch Viktor könnte unter ihnen sein. Aber nein, er ist hier, und Nina schlüpft neben ihn auf den nach Tabak duftenden Rücksitz. Sie kann schon jetzt die Schimpftiraden der Fundusverwalterin hören, weil sie ihr Kostüm als unordentliches Bündel in den Fußraum gleiten lässt. Jenseits von Viktor sitzen der Mann mit dem dichten Haarschopf und dessen Frau. Wie zufällig legt Viktor ihr den Arm um die Schultern. Nina ist schockiert; kein Mann wagt es, in aller Öffentlichkeit mehr zu tun, als sich bei einer Frau unterzuhaken. Aber Viktor wirkt vollkommen ungerührt, als läge sein Arm auf einer Stuhllehne und nicht auf ihren Schultern mit dem geliehenen weißen Pelz. Nina beschließt, so zu tun, als bemerke sie es nicht.
Im Auto ist es kalt, und ihr Atem gefriert zu kleinen Wolken. Frolow dreht den Zündschlüssel im Schloss und bemüht sich eine Zeitlang vergeblich, den Motor anzulassen. Auf den gerade erst geräumten Straßen und Gehwegen hat sich bereits eine neue Schneedecke gebildet. Endlich heult der Motor auf. Frolow lenkt den Wagen schwungvoll auf die Straße hinaus, in Richtig Stadtzentrum, und Nina schwankt aufihrem Sitz erst zur Tür hin, dann zu Viktor. Alle bewundern lauthals den nächtlich glitzernden Schnee und Frolows temperamentvollen Fahrstil.
Beim Blick aus dem Fenster denkt Nina: Endlich sieht die Stadt einmal wirklich schön aus. Die meiste Zeit des Jahres über wirkt sie trist; ständig ist sie mit einer zähen braunen Staub- und Schmutzschicht überzogen. Im Schnee ist alles so sauber, so strahlend. »Moskau ist doch am allerschönsten, wenn es schneebedeckt ist, nicht wahr?« Sie sagt das leise, damit nur Viktor es hört.
»Ganz anders als bei Frauen.« Auch Viktor flüstert fast. Sein warmer Atem berührt ihr Ohr. »Unsere Stadt sieht am schönsten aus, wenn sie sich ganz verhüllt. Und die Schönheit einer Frau tritt am besten zutage, wenn ihr nichts im Wege ist.«
Nina spürt, wie sich ihr Nacken zusammenzieht bei diesen ungenierten Andeutungen. Einem Instinkt folgend, nimmt sie den Pelz ab und legt ihn sich auf den Schoß, wo sich ihr Mantel V-förmig öffnet. Dabei bemüht sie sich um einen möglichst gelangweilten Gesichtsausdruck, falls Viktor sie beobachtet.
Er lässt seine Hand ganz leicht weiter nach vorn gleiten. Nina spürt seine Fingerspitzen seitlich am Hals über ihre Haut streichen. Ihr wird heiß, während Wladimir vom Fahrersitz aus seine Gäste unterhält. »Ich muss sagen«, ruft er, »es gibt doch nichts Schöneres, als bei Neuschnee Auto zu fahren.«
Sie würde Viktor gern ansehen, wagt aber nicht, sich zu ihm umzudrehen. Aus dem Augenwinkel kann sie erkennen, dass er noch immer unbewegt nach vorn sieht, als sei sie gar nicht da.
Frolow und die anderen lachen über irgendetwas, und Nina registriert, dass sie jetzt den Arbat hinunterfahren, an Lichtspielhäusern, Buchhandlungen und Gebrauchtwarenläden vorüber. Banner mit der Aufschrift »Einholen und Überholen« flattern im Wind. Um diese Zeit sind nur noch Zivilpolizisten zu sehen, die zwischen den hohen Schneewehen ganz verloren wirken. In den Schaufenstern stehen mit Lametta geschmückte Neujahrsbäume und glitzernde Bilder von Väterchen Frost. Mit all der funkelnden Dekoration wirkt die Straße wie aus einem Märchen. Und die Musik, die wie üblich aus den großen Lautsprechern tönt, dringt nur gedämpft zu ihnen herein.
Der Betrunkene auf der vorderen Bank brummelt ein Lied, das Nina nicht kennt. Sie selbst ist gar nicht betrunken; das könnte sie sich als Tänzerin nicht leisten. Und Viktor, fragt sie sich, ob er wohl betrunken ist? Hat ihn der Alkohol dazu ermutigt, seine Hand da zu platzieren, wo sie jetzt ist, und ganz zart, wie zufällig, ihren Hals zu berühren? Und was ist mit der anderen Frau?
Der Gesang des Mannes vorn im Auto wird lauter. Er ist zu einem Lied vom Kriegsende übergegangen, »Es lebe Genosse Stalin«. Nina fühlt sich unbehaglich; weil der Mann betrunken ist, klingt das Lied spöttisch, wenn auch nur ein wenig.
»Nur schade, dass es nicht unsere Opernsängerin ist«, sagt der Mann neben Viktor und räuspert sich nervös, als der
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