Die Tänzerin im Schnee - Roman
Betrunkene unbeirrt und falsch weitersingt.
Frolow, der sichtlich bemüht ist, alle wieder zu beruhigen, ruft: »Ja, ja, ein guter Tropfen öffnet das Herz und lockert die Zunge.« Er muss sich anstrengen, um den Singenden zu übertönen. Aber der scheint endlich zu begreifen, wo das Problem liegt, geht zu einem Volkslied über und verstummt schließlich ganz.
Wieder schneit es, diesmal in dickeren Flocken. Der Pobeda schlittert durch die weißen Straßen, aber Nina fühlt sich trotz der Geschwindigkeit, trotz der Fremden um sie her und der Hand an ihrem Hals vollkommen sicher. Merkwürdig, wie geborgen sie sich vorkommt in all dem Schnee, der die Gehwege zum Funkeln bringt, in der Wärme und der Abstrusität so vieler Körper, die in der Enge des Autos in jeder Kurve aneinanderstoßen. Eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe, wie die Figuren in einem Witz.
Jetzt sind sie auf dem Rückweg. Es geht am grell erleuchteten Roten Platz vorbei, an den armen frierenden Soldaten, die stocksteif an jeder Ecke des leeren weiten Areals Posten stehen, vorbei an der baumbestandenen Kremlmauer. Am Lenin-Mausoleum kriechen sie vorüber und an dem alten runden Richtblock – der Pobeda fährt jetzt langsamer. »Das wird ja immer mehr«, sagt die Frau auf der Vorderbank. »Sehen Sie nur, was für dicke Flocken.«
Aber Nina blickt zum südlichen Ende des Platzes hinüber, wo sich wie ein Phantasiegebilde die Basilius-Kathedrale auftürmt, reich verziert und unglaublich, wie ein riesiger Zuckerwarenstand. Der Restder Stadt mag noch so heruntergekommen sein – diese Kathedrale ist majestätisch. »Das hat jemand gebaut«, sagt sie überrascht zu sich selbst. »Menschen haben das gemacht.« Diese Erkenntnis kommt ihr zum ersten Mal; so genau hat sie darüber noch nie nachgedacht. Erst jetzt, als sie das Bauwerk in diesen gewaltigen Schneemassen vor sich sieht, wird ihr unmissverständlich klar, dass das entfernte Traumbild ein Produkt menschlicher Schaffenskraft ist.
Gerade in dem Moment, als sie die schneebedeckten Kuppeln der Basilius-Kathedrale betrachtet, zieht Viktor seine Hand von ihrem Hals zurück. Sie spürt, wie er ihr eine Strähne lockigen Haars hinters Ohr schiebt. Dann hebt er den Arm von ihren Schultern und lässt mit einer einzigen beiläufigen Bewegung seine Hand unter den weißen Pelz auf ihrem Schoß gleiten, zu der Stelle, wo sich ihr Mantel teilt, und dann zwischen die Mantelsäume, bis sie leicht gegen den Stoff ihres Kleides presst. Mit dem Handrücken nach unten, als sei sein Arm ganz zufällig dort gelandet, schieben sich seine Knöchel sanft zwischen ihre Beine. Nina schnappt nach Luft, sagt aber nichts.
Das Auto schleudert ein Stück nach rechts, und Frolow jauchzt vor Begeisterung. Das Paar auf der Rückbank lacht nervös, während er den Wagen in ausladenden Kurven die Straße hinunterschlittern lässt. Nina spürt erschrocken, wie ein völlig neues Gefühl von ihr Besitz ergreift. Sie lehnt den Kopf an Viktors Schulter.
»Ha!«, kräht Frolow. »Da sehen Sie, was dieses Prachtauto alles kann!« Die anderen Frauen kreischen auf, und Nina schluckt mühsam. Der Betrunkene auf der vorderen Bank beginnt sich zu beschweren; er fühlt sich nicht wohl. »Das ist zu viel«, stöhnt er, und Frolow antwortet: »Schon gut, ich höre schon auf.« Er drosselt das Tempo.
Nina hält die Augen fest geschlossen. Das Pärchen neben Viktor diskutiert über das Dessert beim Empfang; der Betrunkene beschwert sich noch immer über Frolows Fahrstil. Nina spürt, wie sich ihre Hüfte unwillkürlich bewegt, wie ihr Nacken sich versteift. Sie ist völlig verängstigt von dem, was mit ihr geschieht. Das Gefühl ergreift immer stärker von ihr Besitz, ihr wird flau im Magen, und ohne nachzudenken, greift sie nach Viktors freier Hand. Sie klammert sich daran fest, während der Wagen weiter durch die Nacht rollt, und zwingt sich dazu, gerade zu sitzen und zu tun, als wäre nichts.
Als sie den Betrunkenen zu Hause abliefern, lässt Nina Viktors Hand los. Seine andere bewegt er nur ganz leicht und öffnet sie, dass seine Handfläche auf ihrem Oberschenkel zu liegen kommt. Dort bleibt sie, während Ninas Puls sich allmählich wieder verlangsamt, während Frolow das ältere Ehepaar nach Hause bringt und sich auf den Weg zu der Adresse der Opernsängerin macht. Bis sie dort angekommen sind, hat sich ihr Herzschlag beruhigt. »Und Sie, Fräulein Schmetterling?«, fragt Frolow, während er wieder auf die Straße hinaussteuert. »Wo
Weitere Kostenlose Bücher