Die Tänzerin im Schnee - Roman
Jahrhunderte aber durch Oxidationsprozesse allmählich dunkler und nimmt eine rötliche Färbung an. Die Insekten, die in Baltischem Bernstein häufig zu finden sind, erinnern an die Sumpflandschaften vergangener Zeitalter. Immer wieder sind auch Schmetterlinge darin eingeschlossen, ein Hinweis, dass die entsprechenden Stücke von Bäumen stammen, die in der Nähe von Blumenwiesen standen.
Schmetterlinge. Das wäre für Nina Rewskaja perfekt gewesen, fandDrew. Wenn jemand das Schmuckset extra für sie kaufen wollte, hätte ein Stein mit einem Schmetterling besonders gut gepasst, oder mit einer Motte, mit irgendeinem geflügelten Tier.
Aber in den drei zur Auktion freigegebenen Stücken gab es keinen Schmetterling. War es nicht auch viel zu unwahrscheinlich, dass jemand ausgerechnet Bernstein mit genau der Inkluse fand, die zu der Beschenkten passte? Vor der Revolution mochte es Menschen gegeben haben, die über Reisen und Handelsbeziehungen solche Stücke beschaffen konnten, aber zu Sowjetzeiten ein komplettes und bezahlbares Set zu finden … Und woher hatte Grigori Solodin seinen Anhänger?
Warum schwieg er so beharrlich darüber? Resignation wollte aufkommen, und Drew musste sich zwingen, bei der Sache zu bleiben. Wieder dachte sie über Nina Rewskaja nach, darüber, wie ihr Leben in Russland ausgesehen haben mochte. Ein Leben als gefeierte Künstlerin, als angesehene Primaballerina. Warum hatte sie dann das Land verlassen? Andererseits konnten die Gräuel ihr nicht verborgen geblieben sein. Schließlich hatten sie sogar ihren eigenen Ehemann getroffen. Drew hatte die genaue Chronologie der Ereignisse noch nicht beisammen. Hatte Nina geahnt, was passieren würde? Irgendetwas Schreckliches musste sich damals schon angekündigt haben. War sie davor geflohen? Oder war erst Ninas Verschwinden die Ursache für das gewesen, was dann geschah?
Welch großen Schritt sie gewagt hatte. Vielleicht war es nicht einmal so sehr ein bewusster Entschluss gewesen; Drew dachte, dass viele der mutigsten Handlungen nicht auf Entschlüsse, sondern auf Reflexe zurückgingen. Und doch sahen neben Ninas Lebensgeschichte ihre eigenen Entscheidungen kleinkrämerisch aus. Schließlich war ihr nie etwas Schreckliches passiert. Sie hatte nur zu jung geheiratet, sich von einer Romanze davontragen lassen, die in Wahrheit kaum mehr als eine Freundschaft gewesen war, und war in ein Leben hineingeraten, das ihr weniger wie das Resultat eines Entschlusses als wie eins jener Hochzeitsgeschenke vorkam, mit denen sie wenig anfangen konnte.
Sie nippte wieder an ihrem Bourbon und sah auf die Uhr. In einer Stunde wollte sie sich in dem kleinen Programmkino drüben in Somerville mit ihrem Freund Stephen treffen. Er gehörte zu den wenigen,mit denen sie immer Kontakt gehalten hatte. Es hatte eine unangenehme Phase gegeben, in der er wiederholt versuchte, mehr zu sein als nur ein Freund, aber Drew hatte ihm klargemacht, warum das nicht ging. Für alles, was über eine Freundschaft hinausging – für eine feste Beziehung, eine große Liebe –, hätten ihre Gefühle so stark sein müssen, dass sie es wert schienen, noch einmal ganz von vorn anzufangen. Und so stark waren ihre Gefühle für Stephen eben nicht.
Drew schreckte hoch, als das Telefon klingelte. Sie wollte erst nicht abheben, dachte dann aber, es könnte Stephen sein.
Es war ihre Mutter. Drew seufzte. »Gibt’s gute Neuigkeiten?«, fragte ihre Mutter immer, und im Laufe der Zeit klang sie dabei immer weniger hoffnungsvoll. Drew wusste, dass ihre Mutter ehrlich um sie besorgt war – sie mit ihrem schlecht bezahlten Job und ihrer Weigerung, wieder zu heiraten. Sie wusste aber auch, dass ein Teil ihrer Besorgnis sich dem Wunsch verdankte, sie möge endlich messbare Erfolge vorweisen. Drews Beförderung zum Associate Director hatte sie in der Hinsicht eine Weile beruhigt. Jetzt war sie erleichtert, noch ein wenig mehr in der Richtung bieten zu können, und nahm sich vor, ihr von dem Rewskaja-Projekt zu erzählen.
Stattdessen fragte ihre Mutter etwas völlig Unerwartetes. »Wo hast du es versteckt?«
Drew holte tief Luft und machte sich bewusst, dass ein Unbeteiligter diese Szene merkwürdig, vielleicht sogar amüsant gefunden hätte. »Es« war ein Foto, ein großformatiges, professionell gemachtes, wenn auch nicht gestelltes Foto von Drew vor neun Jahren, am Tag ihrer Hochzeit.
»Es ist ein so schönes Bild von dir«, hatte ihre Mutter gesagt, als Drew es ungefähr ein Jahr nach ihrer
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