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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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darf ich Sie abliefern?«
    Nina nennt eine Adresse, aber nicht die des Gebäudes, in dem sie mit ihrer Mutter lebt, sondern eine angrenzende größere Straße. Viktor zieht die Hand zurück und legt sie in seinen eigenen Schoß. Nina richtet sich auf und rückt ihre Frisur zurecht, als sei auch die in Unordnung geraten.
    »Da sind wir schon!«, freut sich Frolow und hält am Straßenrand.
    Nina legt sich den Pelz um. Sie will diesen Mann nicht verlassen, dessen bloße Existenz für sie bis vor wenigen Stunden noch unvorstellbar war. Zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie solche Gefühle erlebt, das Verlangen, jemandes Haut an ihrer Haut zu spüren, und zum ersten Mal hat eine innere Hitze von ihr Besitz ergriffen, die stärker war als sie selbst.
    »Gute Nacht«, sagt sie, als Frolow aussteigt, um ihr die Tür zu öffnen.
    »Ja, wahrhaftig«, antwortet Viktor. Er ergreift ihre Hand mit der Handfläche nach oben und umschließt mit den Fingern das Gelenk. Nina ist sprachlos nach all dem, was er mit ihrem Körper angestellt hat. Bestimmt kann er ihren Puls fühlen.
    Als Frolow die Tür öffnet, küsst Viktor ihr die Hand, aber auf der Innenseite, nahe dem Handgelenk. Sie entzieht sich ihm und kramt ihren Beutel, ihre Handtasche und das Kostüm aus dem Fußraum hervor. Die Fundusverwalterin wird ihr wirklich gehörig den Kopf waschen. Endlich findet sie ihre Sprache wieder, um dem Gastgeber für die Spritztour zu danken. »Gute Nacht«, sagt sie noch einmal. Dann geht sie auf das Gebäude zu, das nicht ihres ist, vor dem ein Wachmann gelangweilt auf und ab patrouilliert. Das Auto schlingert mit Viktor davon, und Nina tastet nach ihrem Hals, nach dem geliehenenPelz. Er fühlt sich zerzaust an, als hätte er einen Schneesturm überstanden.
    Es muss gegen fünf Uhr morgens sein. Auf dem Gehweg fegen alte Frauen Schnee und zerhacken mit schweren Spaten das darunterliegende Eis. In ihren Filzstiefeln und gefütterten Baumwolljacken blicken sie nicht von der Arbeit auf, als Nina vorübergeht. Sie biegt in ihre Gasse ein, in der sich hohe Schneewehen aufgetürmt haben, und sieht einige schwache Lichter hinter den Fenstern ihres Wohnhauses leuchten; bei so vielen Bewohnern ist immer irgendwo Licht, ist immer jemand wach, egal um welche Uhrzeit.
    Über die Schulter blickt Nina noch ein letztes Mal auf die glitzernde Straße zurück. Im Laternenlicht und unter dem Schnee wirkt alles so klar und rein. Aber hinter diesem Glanz hört sie das endlose Kratzen und Schaben, das beharrliche
krick
,
krick
der Spaten in der Hand er alten Frauen. Wieder denkt Nina, was sie von nun an oft denken wird: Am schönsten ist meine Stadt im Winter, wenn alles unter dem Schnee verborgen ist.

 
    Los 20
    Halskette aus Südseeperlen. 29 weiße Perlen mit einem leichten
roséfarbenen Oberton, Durchmesser ca. 10,28 bis 14,10 mm, 18-kt.-
Weißgold- und Diamant-Kugelschließe, Länge ca. 47 cm. 30   000 bis
35000 Dollar

KAPITEL 4
    Bernstein gehört zu den wenigen natürlichen, nicht von Menschen geformten Schmucksteinen. Technisch gesehen, handelt es sich um das oxidierte, fossile Harz von Nadelbäumen, in dem oft kleine organische Überreste eingeschlossen sind. In Litauen nennt man Bernstein
gintaras
, eine Ableitung von dem Wort »Schutz«, weil man ihm traditionell die Macht zuspricht, Unglück abzuwehren. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts trugen viele Europäer Bernsteine mit »Inklusen« (also Steine mit fossilen Insekten oder Pflanzen darin) sogar als Amulette, um sich vor den Gefahren des Lebens zu schützen.
    D rew, die es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte, dicht neben dem alten, fauchenden Heizkörper, schrieb das Wort
Amulett
unter ihre Notizen und unterstrich es doppelt, nicht weil sie sich davon etwas für ihre Recherchen versprach, sondern weil ihr der Gedanke so gut gefiel, ein einziger Stein könnte jemanden vor den vielfältigen Gefahren des täglichen Lebens beschützen. Sie hielt sich nicht für abergläubisch, und doch war ihr bewusst, dass sie ihren Granatring so trug, als wäre sie es. Zum Kochen und Putzen und vor dem Schlafengehen nahm sie ihn ab, aber wann immer sie das Haus verließ, steckte sie ihn wieder an. Sie kehrte sogar jedes Mal um, wenn sie ihn vergessen hatte, selbst dann, wenn sie spät dran war. Im Grunde war ihr nie etwas besonders Schlimmes zugestoßen, weder bevor noch nachdem sie den Ring ersteigert hatte, aber es gab so wenige Dinge im Leben, die man selbst kontrollieren konnte, dass ihr der Ring an

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