Die Tänzerin im Schnee - Roman
Scheidung im Wohnzimmerregal bemerkte. Mit ihren vollen Wangen, auf denen im prallen Sonnenschein kein einziges Fältchen zu sehen war, vor einem Himmel, so blau wie Wedgwood-Porzellan, sah sie auf dem Bild noch jünger aus als dreiundzwanzig Jahre. Wann immer ihre Mutter das Porträt betrachtete, ging auch in ihrem eigenen Gesicht eine geheimnisvolle Veränderung vor. Drew hatte sie schon vor Jahren gebeten, das Foto aus dem Regal zu nehmen, aber es war immer an seinem Platz geblieben,in dem dicken Kritallglasrahmen, den die Firma ihres Vaters ihr zu Weihnachten geschenkt hatte.
Merkwürdig, wie Menschen sich in Dinge verbeißen konnten, um die sich andere nie Gedanken machen würden. Offensichtlich bedeutete das Bild ihrer Mutter mehr, als Drew nachvollziehen konnte. Drew hatte versucht, sich selbst außen vor zu lassen und nur den Symbolwert von Hochzeitskleid und Schleier zu sehen, die für all das stehen mochten, was ihre Eltern bei ihrem kurzen Termin mit dem Standesbeamten und dem anschließenden Kaffeetrinken in einer Bäckerei vermisst hatten. Selbst Grandma Riitta hatte ihre Hochzeit nicht richtig gefeiert; ihren ersten Mann, Drews Großvater, hatte sie obendrein gar nicht offiziell geheiratet.
Aber vergangene Weihnachten, als sie vier Tage bei ihren Eltern verbrachte, hatte Drew beschlossen, das Foto endlich wegzuräumen. Sie hatte diesen Schritt nicht im Voraus geplant. Eher hatte es damit zu tun, dass sich die schwere Last der Schuld endlich von ihren Schultern zu heben begann. Drew nahm das Bild aus dem Rahmen und versteckte es, weil sie es nicht einfach wegwerfen wollte, in einer Schublade in ihrem ehemaligen Schlafzimmer. Dann beschloss sie, dass sie auch den Rahmen nicht länger sehen mochte, und brachte auch ihn in der Schublade unter.
»Hast du es jetzt erst bemerkt?«
»Das verletzt mich, Drew. Du weißt doch, wie viel das Bild mir bedeutet.«
»Weil du den Menschen auf dem Foto lieber magst als mich.« In dieser Klarheit hatte sie noch nie darüber nachgedacht, aber jetzt, wo sie den Gedanken aussprach, wusste sie, dass es stimmte.
»Wie kannst du so etwas nur sagen! Würdest du das etwa von deinen Babyfotos behaupten? Die bewahre ich schließlich auch auf.« Zwei davon standen auf demselben Bücherregal, zusammen mit einem Bild ihrer Eltern bei einer Fahrradtour durch Lyon.
»Meine Babyfotos bedeuten immerhin etwas. Aber das von mir im Hochzeitskleid …«
»Ich mag es, weil du darauf so glücklich aussiehst!«
»Weil
du
glücklich warst, als du dachtest, du könntest endlich stolz auf mich sein.« Wenn es zu irgendetwas gut gewesen wäre, hätte Drewhinzugefügt, dass auch sie immer noch um ihren Verlust trauerte. Sie hatte nicht nur einen Ehemann verloren, eine Liebe und etwas, worauf ihre Gefühle sich richten konnten, sondern auch ihre Schwiegereltern, die sie sehr gemocht hatte und noch immer, wenn auch inzwischen seltener, vermisste. Stattdessen sagte sie: »Bitte lass es, wo es ist.«
Ihre Mutter schwieg eine Weile. »Drew.« Sie hielt störrisch an ihrem verwunderten Tonfall fest. »Wenn ich geahnt hätte, dass das Bild dich so … belastet, dann hätte ich es doch gar nicht erst wieder hingestellt!« Das war typisch für ihre Mutter, diese mentalen Taschenspielertricks – als hätte Drew selbst ein Problem verursacht, das es ohne sie gar nicht gegeben hätte.
»Ich muss jetzt los«, erwiderte sie müde. Es gab noch mehr, das sie hätte sagen wollen, aber sie wusste nur zu gut, was es bedeuten konnte, ihre Gedanken offen auszusprechen und nach ihren Gefühlen zu handeln. Beim letzten Mal hatte so ein Versuch damit geendet, dass zwei Paar Eltern und ein Ex-Ehemann wütend auf sie waren. »Ich bin verabredet.«
Sie legte auf und beschloss, die ganze Unterhaltung schnellstens zu vergessen. Schließlich ging es nur um eine Kleinigkeit, die jetzt bereinigt war, und wenn sie es so betrachtete, als abgeschlossenes Kapitel, hatte sie vielleicht endlich ihre Ruhe davor.
In seiner ersten Erinnerung war Winter.
Ein Sonntag mit seinen Eltern, nach heftigen Schneefällen, auf einem Spaziergang über den Roten Platz. Der Platz ist riesig und ganz still. Es gibt nur einen schmalen Bereich, den die Fußgänger betreten dürfen, und in der Entfernung sehen sie wie kleine schwarze Punkte aus – schwarze Punkte, die sich langsam über eine weite weiße Ebene bewegen. Grigori ist erst drei. Er starrt wie verzaubert auf die Menschenpunkte, während seine Mutter ihn drängt, in Bewegung zu
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