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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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bleiben, damit er nicht friert. Er hört die Krähen krächzen, die über sie hinwegfliegen, und blickt hoch. Auch der Himmel ist ganz weiß, bis auf die Vögel. Einer fliegt tiefer zu ihnen herab, und Grigori sagt: »Da, der Vogel!«, weil das etwas ist, das er kennt.
    »
Voron «
, sagt seine Mutter. Das Wort für den Raben, den größten und schwärzesten von allen.
    »
Voron «
, wiederholt Grigori, aber Feodor korrigiert die beiden, wie es seine Art ist. »Nein,
Vorona
. Siehst du, sie sind teilweise grau.« Er zeigt nach oben.
    »
Vorona «
, sagt Grigori. Krächzen im dichten weißen Himmel. »
Vorona
.« Punktgleiche Menschen auf dem großen weißen Platz. Nicht das männliche
Voron
, sondern das weibliche
Vorona
. Nur so wenig Grau. Der feine Unterschied zwischen zwei Dingen, die einander so ähnlich sind.
    Während er jetzt den schlecht geräumten Gehweg der St. Mary’s Street hinunterlief, überlegte Grigori, ob seine Berufung – seine Beschäftigung mit den kleinsten Details in Sprache und Bild, mit subtilen Verschiebungen in der Bedeutung von Worten, den Veränderungen, die schon ein einziger Buchstabe mit sich bringen konnte – damals ihren Anfang genommen hatte, in diesem Augenblick auf dem Roten Platz an einem fernen verschneiten Tag. Kleinste Verschiebungen in Laut und Sinn, Wörter, die in anderen Wörtern enthalten waren … Noch heute fielen Grigori die kleinen Überraschungen auf, die die geschriebene Sprache bereithielt, dass etwa in den »intimates«, den Vertrauten, die »inmates«, also die Gefängnisinsassen mitklangen, und zwischen »friend« und »fiend«, Freund und Feind, nur ein Buchstabe lag. Mit diesem wachen Auge hatte er sich erst dem Norwegischen, dann dem Französischen genähert. Trotzdem hatte es ihn überrascht, als er am Lycée feststellen musste, wie sehr dieses Interesse sein Talent für Mathematik und Naturwissenschaften überwog und dass er trotz seiner fleißigen Bemühungen, in die »supérieure«-Kurse zu gelangen, in diesen Fächern nie erfolgreich war. »Aber Ihre Eltern sind doch Wissenschaftler?«, hatte ein verblüffter Lehrer ihn gefragt, als er in einer Physikprüfung schlecht abgeschnitten hatte, als müsste das eine notwendig auf das andere folgen.
    Er zog bei diesen Gedanken den Kopf ein, verbarg seine Ohren vor der Kälte zwischen den Schultern, aber die Erinnerungen stürmten weiter auf ihn ein. Wie sie die Glastür geöffnet hatte, einen Spaltbreit nur, mit spitz hervorstehenden Knöcheln wie bei einer weit älteren Frau. Wie sie die Tür zwischen ihnen positionierte wie einen Schild, und der kalte, endgültige Klang ihrer Stimme.
    Ich bin nicht die, die Sie suchen.
    Erleichtert betrat Grigori den neongrellen Dunkin’ Donuts, wo er mit Zoltan verabredet war.
    Da saß er, den Kopf mit dem zerrauften, schütteren Haar tief über einen Tisch am Fester gebeugt, der über und über mit Zetteln bedeckt war. Grigori setzte sich ihm gegenüber auf die harte Plastikbank, zog sich die Handschuhe aus und räusperte sich leise.
    »Ha!« Zoltan tat, als hätte er sich erschrocken. »Du!«
    »Du weißt doch, dass ich immer pünktlich bin«, sagte Grigori. Am Telefon hatte Zoltan gesagt: »Treffen wir uns doch in dem Café, das ich gerade entdeckt habe, das ist viel besser als das andere. Auf der St. Mary’s, gleich gegenüber der T-Kreuzung. Mit dem orange-rosa-farbenen Schild.«
    Zoltan hatte offenbar den ganzen Vormittag hier verbracht, während die Geschäftsleute, Ladenbesitzer und Bauarbeiter hastig ein und aus gingen, der Fernseher lärmte, die Stadtstreicherinnen mit ihren Tüten und Taschen raschelten und die Angestellten hinter dem Tresen sich lautstark auf Portugiesisch unterhielten. Grigori schälte sich aus seinem Mantel, behielt aber Schal und Mütze an. Der Laden war nicht besonders gut geheizt.
    »Weißt du, was eine Frau gerade gesagt hat?«, fragte Zoltan. »Gerade eben? Sie sagte: ›Bei der Kälte fällt einem ja das Atmen schwer.‹ Ach, mit meinem Akzent klingt es nicht so, wie es soll. Aber ist dir aufgefallen, wie poetisch das ist? ›Das Atmen schwer‹ …« Er schrieb die Worte in sein Notizbuch. Grigori musste lächeln. Zoltan besaß nicht nur die Gabe, Cafés zu sehen, wo keine waren, sondern entdeckte auch Poesie an den unwahrscheinlichsten Orten.
    Als hätte er Grigoris Gedanken gelesen, sagte Zoltan in entschuldigendem Ton: »Jedenfalls ist es hier hell genug zum Lesen. Nicht wie in dieser Ghulhöhle auf dem Campus.« Theatralisch

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