Die Tänzerin im Schnee - Roman
schüttelte er sich. »Das gespenstische Gebrabbel aufgeblasener Egos … ich hatte nicht mal gemerkt, wie es mir die letzten Kräfte raubte, Grigori, dieses unablässige akademische Geschwätz.«
In Wirklichkeit war Zoltan aus dem Campuscafé rausgeworfen worden, vor kurzem erst; Grigori hatte es von einer Spanischdozentin gehört. In einer besonders ausgedehnten kreativen Phase hatte Zoltan dort mehr und mehr Zeit verbracht (was auch erklärte, warumGrigori seit über einer Woche nichts von ihm gehört hatte). Die neuen Betreiber hatten ihn offenbar für eine Art Stadtstreicher gehalten und ihn gebeten, künftig nicht mehr ganze Tage an seinem Lieblingsplatz am Fenster zuzubringen, wo ihn alle Welt sah.
Zoltan nippte an seinem Styroporbecher. »Der Kaffee ist wirklich exzellent, Grigori. Du solltest ihn probieren.«
»Tut mir leid, aber ich habe nicht viel Zeit. Wolltest du nicht etwas mit mir besprechen?«
»Ja! Ganz recht. Ich wollte dich hochachtungsvoll und in aller Freundschaft feierlich fragen, ob du mein Nachlassverwalter werden willst.«
Damit hatte er nicht gerechnet.
»Thaddeus Weller wollte das eigentlich übernehmen. Großartiger Kerl. Aber leider ist er vor kurzem verstorben.«
»Das tut mir leid.« Grigori hatte noch nie von dem Mann gehört.
»Tragisch, wirklich. Kaum sechzig Jahre alt. Und er hat nie diesen brillanten Roman geschrieben, den er in sich trug. Man konnte richtig sehen, wie er da drin festsaß und ans Licht wollte. Andere nannten es einen Bierbauch. Als ich davon erfuhr, fragte ich mich: Wen kenne ich noch, der mich wirklich versteht – ohne dass es zwischen uns Reibereien gibt? Das ist nämlich das Problem mit meinen Dichterkollegen. Die Konkurrenz, verstehst du, die Rivalitäten, der Neid. Mit dir ist es anders. Du bist kein Poet, und trotzdem verstehst du viel von Poesie, auch emotional. Ganz abgesehen davon, dass deine Übersetzungen herausragend sind. Außerdem haben wir viel gemeinsam, du und ich.«
»Also«, sagte Grigori, »das ist ja eine schmeichelhafte Überraschung.« Normalerweise wäre diese Aufgabe den Nachkommen oder einem Lebenspartner zugefallen, aber beides hatte Zoltan nicht. (Auch Grigori und Christine waren kinderlos geblieben; Christines Schwangerschaften endeten alle in der neunten Woche.) »Ich fühle mich sehr geehrt. Trotzdem frage ich mich, was genau wir deiner Meinung nach gemeinsam haben.«
Zoltan beugte sich vor und stützte sich auf seine Ellbogen. »Du trägst eine Vergangenheit mit dir herum, die andere meist gar nicht wahrnehmen.« Er nickte. »Ich war älter als du, als ich meine Heimatverlassen habe, aber diese Erfahrung, noch einmal ganz von vorn anzufangen, während die alte Lebensgeschichte immer ein Teil deiner selbst bleibt, immer auf dir lastet, die ist uns gemeinsam. Meinst du nicht?«
Grigori musste daran denken, wie dieses Land, das jedem, den das Schicksal an seine Ufer spülte, eine neue Chance bot, Zoltan geschwächt hatte, und nicht nur ihn, sondern auch seine, Grigoris, Eltern, ganz anders als die anderen Stationen ihrer Lebensgeschichte. Wie es ihre Autorität beschädigt, ihre Brillanz abgestumpft hatte. Geistige Größe wurde in dieser Heimat der Tapferen einfach nicht wertgeschätzt. Einen beängstigen Moment lang verspürte Grigori, als er Zoltan in die Augen sah, diesen seltenen, aber bezwingenden Drang: das unleugbare, fast körperliche Verlangen, ihm seine Geschichte zu erzählen. Aber er sagte nur: »Stimmt, das haben wir gemeinsam.«
»Das heißt natürlich nicht, dass du zustimmen musst«, beeilte sich Zoltan zu sagen. »Du musst dich auch nicht sofort entscheiden. Nur keine Eile. Auch wenn ich mich natürlich über kurz oder lang um diese Sache kümmern muss. Übrigens ist mein Œuvre nicht besonders umfangreich. Ein paar Gedichtsammlungen, Essays, die unübersetzten Werke – bei denen müsste dir natürlich jemand helfen. Meine Tagebücher führe ich auf Englisch, trotzdem wirst du damit wohl nicht viel anfangen können.« Er wies mit dem Kinn auf ein gebundenes Notizbuch vor sich auf dem Tisch. »Dreizehn Stück davon. Allerdings sind die in den letzten Jahren von meiner Wenigkeit hemmungslos geplündert worden. Für meine Memoiren.«
»Viele schmutzige Details?«
»O ja, jede Menge. Staatsgeheimnisse, gescheiterte Affären …« Er lachte. »Ich bin gespannt, wie du dich entscheidest, Grigori. Du bist genau der Richtige dafür. Du weißt hoffentlich, wie sehr ich deine Arbeit bewundere. Dass du einen
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