Die Tänzerin im Schnee - Roman
nach Kuibyschew in Sicherheit gebracht wurden. Aber Nina nickt nur und lässt Viktor weiter davon erzählen, wie er nach dem Krieg nach Moskau zurückgekehrt ist und seither mit seiner Mutter in einem Künstlerhaus lebt.
»Deshalb konnte ich nicht früher zu Ihnen kommen«, fügt er hinzu. »Es ging ihr sehr schlecht. Eine Woche lang wusste der Arzt nicht mehr ein noch aus. Aber glücklicherweise hat sie es überstanden.«
Nur einen Moment lang fragt sich Nina, ob das eine Ausrede ist. Sie stellt sich Viktors Mutter wie ihre eigene vor: eine ehemalige Schönheit, die unermüdlich Besorgungen macht und alle Bitterkeit des Tages in die Knoten ihres Schultertuchs bannt. Endlich traut sie sich, jene andere Frage zu stellen:
»Diese Dame, Ihre Begleiterin beim Empfang …«
»Lilja meinen Sie? Eine bemerkenswerte Frau, nicht wahr? Eine alte Freundin von mir. Sie lebt inzwischen in Leningrad, kommt aber manchmal hierher, um ihre Familie zu besuchen.«
Nina versucht, sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen.
Eine bemerkenswerte Frau …
Aber Viktor scheint beschlossen zu haben, dass das Thema damit beendet ist, ebenso wie das Essen. Er legt seine Serviette auf den leeren Teller, schiebt ihn von sich weg und lächelt sein frohes, sorgenfreies Lächeln. Doch seine Serviette sieht geschunden aus, schmerzhaft verdreht, als hätte Viktor sie den ganzen Abend über ausgewrungen.
»Und Sie?«, fragt er. »Wie steht es mit Ihrer Familie?«
»Ich lebe nur noch mit meiner Mutter. Sie arbeitet in einer Poliklinik. Mein Vater war Kulissenmaler im Bolschoi. Ich glaube, deshalb hat meine Mutter ihn auch geheiratet. Sie hat das Theater immer geliebt, ist aber nicht in Theaterkreisen aufgewachsen. Ihretwegen bin ich Tänzerin geworden. Mir ist erst kürzlich klargeworden, dass dasBallett ihr Traum gewesen sein muss – ihr eigener, meine ich, für sich selbst.« Während sie das sagt, sieht sie die schmalen Fesseln ihrer Mutter vor sich, ihre sehnigen Beine, schlank, aber kraftvoll, wie die eines Rehs. Gleich darauf fühlt sie sich schuldig, ihre geheimen Sehnsüchte preisgegeben zu haben. Sie wendet sich ab, um den Musikern zuzusehen.
Viktor scheint sich nicht daran zu stören. »Sie haben so einen grazilen Hals«, sagt er. »Bestimmt ist das eine der Voraussetzungen, um Ballerina zu werden, oder? Wird der beim Vortanzen nachgemessen?«
Nina lacht. »Es ist eine optische Illusion. Man bringt uns bei, uns auf die Zehenspitzen zu stellen und dann, wenn wir die Füße wieder senken, den Kopf oben zu lassen.« Das klingt, als wolle sie sich über ihn lustig machen, aber sie meint es ernst. »Es ist ein bisschen wie Zauberei.«
»Allerdings. Sie haben einen magischen Hals. Ich würde ihn gern wieder berühren.«
Nina errötet, ein Hitzeschwall von der Brust bis zu den Wangen, und hält eine Hand vor ihren Hals, als könnte sie die aufsteigende Röte verbergen.
»Ein Hals wie der Ihre sollte Juwelen tragen.«
Nina ist beglückt von seinen furchtlosen Worten und dem Vertrauen, das darin liegt. Sie hält nicht viel von Leuten, die persönlichen Besitz aus Prinzip ablehnen und es jedem ungefragt sagen, als mache es sie zu besseren Menschen. Wie ihre Flurnachbarn, die alles schlechtreden, was anderen gehört, alles, was nicht absolut notwendig ist. Selbst ihre Mutter betont gern, dass sie nicht mehr braucht, als sie besitzt. Sie würde nie zugeben, dass sie sich nach materiellen Dingen sehnt, und trägt statt eines Gürtels eine Kordel um die Taille. Im Vergleich zu ihr muss Nina geradezu gierig wirken.
Aber in Viktors Gegenwart fühlt sie wieder diese Zuversicht, wie bei ihrer ersten Begegnung, als sie die Mandarine mit ihm teilte. Es scheint endlos lange her zu sein, dass sie sich jemandem so nah gefühlt hat. »Was ich mir wirklich schon immer gewünscht habe«, sagt sie leise, »sind Ohrringe.«
»Ohrringe … ja.« Viktor kneift die Augen zusammen, wie um sich etwas vorzustellen.
»Schon seit ich zehn Jahre alt war«, sagt Nina und erzählt ihm von der Dame in dem Hotel mit den Diamantsteckern in den Ohren. Sie weiß, dass es sich materialistisch anhören könnte, hofft aber, dass jemand wie Viktor sie nicht dafür verurteilt. »So etwas wie diese Frau hatte ich noch nie gesehen. Es war, als käme sie aus einer ganz anderen Welt.«
»Auch Sie sollen einmal Diamanten tragen, Schmetterling«, sagt Viktor. »Und Perlenketten, die bis auf den Boden reichen. Die sich in Strudeln zu Ihren Füßen ergießen.« Wieder lächelt er
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