Die Tänzerin im Schnee - Roman
Prologs, als die Prinzen und Pagen mit ihren Pelerinen, das Königspaar und ihre Bediensteten zu Tschaikowskis getragener Musik zu tanzen beginnen, übt sie, auf eine Scheinwerferstange gestützt, Plié um Plié, während um sie her die Garderobiers noch rasch hier einen Haarreif und da ein Diadem zurechtrücken und die Gruppentänzerinnen wie ein Spatzenschwarm durcheinanderreden, bis der Inspizient sie verscheucht und schimpft, weil sie dicke Kolophoniumspuren auf dem Boden hinterlassen.
Einer der Requisiteure drückt Nina ein glitzerndes Fliedersträußchen in die Hand, ihren Zauberstab, und dann erklingt von der Harfe das erste Arpeggio des Walzers, zu dem sie ihren Auftritt hat. Nina gibt sich der wiegenliedartigen Melodie hin und betritt hinter ihrem Gefolge aus Tutu-tragenden Mädchen auf Zehenspitzen die steil geneigte Bühne, das hell erleuchtete Feenreich. Nina hält sich als ruhige, einende Kraft in der Mitte, während sie mit grazilen Armbewegungen ihren Zauberstab schwingt, um die anderen Feen eine nach der anderen vorzustellen, mit vielen kleinen Bourrées und nur wenigen Grands Jetés in der Bühnendiagonalen, ganz ohne die schnellen Sprünge und Drehungen, die sie so mag. Diese erste Szene ist ein langsames Adagio, nicht besonders fordernd, nur eine Pirouette in die Arabesque. Weil die Fliederfee Weisheit und Schutz vor dem Bösen symbolisiert, bemüht sich Nina, aus jeder ihrer Bewegungen das Gefühl sprechen zu lassen, dass Güte gegen die Niedertracht siegt, dass Flüche zurückgenommen werden können. Bei ihrem ersten Solo zu einem gedehnten, etwas pompös klingenden Walzer stellt sie sich vor, mit jedem sanften Schwung ihrer Beine, wenn sie auf die Zehenspitzen steigt und den Fuß hochwirft, um anschließend die Arme vor dem Körper zum Kreis zu schließen, das drohende Unheil zu bannen. Wie immer, wenn sie tanzt, vergehen die Minuten wie Sekunden; schon ist sie bei ihrer letzten Diagonale über die Bühne, vollführtmehrfach hintereinander zwei Sissones, ein Relevé und dann eine doppelte Pirouette.
Erst später, als sie und die anderen Tänzerinnen geduldig und unbeweglich einen Pas de deux abwarten, erlaubt sie sich einen Blick in den mehrstöckigen Zuschauerraum, über die Bodenscheinwerfer und die Köpfe des Orchesters hinweg, als könnte sie zwischen all den rotsamtenen Sitzen und schattigen Gesichtern irgendwo, wenn sie nur fest genug daran glaubt, Viktor entdecken.
Stattdessen sieht sie ihre schöne, erschöpfte Mutter in der Seitenloge, in der sie immer sitzt. Seit ihre Großmutter von ihnen gegangen ist, lebt sie mit ihr allein in dem kargen Zimmer. Ihre Mutter arbeitet tagsüber in der Poliklinik und verbringt die Abende mit endlosen Besorgungen für Freunde und Verwandte, die selbst zu alt oder zu schwach sind. Immer ist irgendwer im Krankenhaus, ganz zu schweigen davon, dass ihr Bruder schon seit drei Jahren im Gefängnis sitzt. (Er ist unschuldig, alles ein Irrtum; sobald Genosse Stalin davon erfährt, sagt Mutter immer, wird er die Sache in Ordnung bringen.) Weder sie noch Nina verlieren je ein Wort über seine missliche Lage, obwohl ihre Mutter Tag für Tag auf der Suche nach Essen oder Medikamenten für ihn von einem Ende der Stadt zum anderen unterwegs ist – eine endlose Suche, Schlangestehen bei Wind und Wetter, sommers im weißen Kopftuch aus Baumwollstoff, winters in dem dunklen aus Wolle. Und doch lässt sie es sich nie nehmen, Nina in einer neuen Rolle zuzusehen. Von jedem ihrer Stücke sieht sie mindestens eine Aufführung, winkt ihr fröhlich mit dem Programmheft und schaut so aufmerksam zu, als hätte sie noch nie eine so gelungene Aufführung gesehen.
Heute jedoch sehnt sich Nina danach, Viktor zu sehen, seine stolze Nase mit den geweiteten Nasenflügeln und die mandelförmigen Augen. Bei dem bloßen Gedanken an ihn flattert ihr Herz wie ein Vogel im Käfig.
Vor ihrem Auftritt im zweiten Akt stellt sie sich so dicht wie möglich an den Rand der vorderen Seitenkulisse, um mehr vom Zuschauerraum sehen zu können, obwohl sie natürlich die Regel kennt: Wenn du das Publikum sehen kannst, sieht das Publikum dich. Sie lässt ihren Blick suchend über die Sitzreihen schweifen, bis der Inspizientihr bedeutet zurückzutreten. Sie ist zu nah an den Scheinwerfern; ihr Schatten könnte zu sehen sein …
Der Applaus hat sich gelegt, der Vorhang senkt sich, und das Licht geht an. Sie hat gut getanzt – das weiß sie, und das Publikum weiß es auch, das war dem Applaus
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