Die Tänzerin im Schnee - Roman
anzuhören. Selbst ihre Kolleginnen gratulieren ihr.
Ninas Mutter erwartet sie hinten im Flur, unter dem Plakat mit der Aufschrift »Unsere Freizeit heißt Arbeit«. Ihr Gesicht strahlt; die Schultern hat sie zurückgezogen und richtet sich so gerade auf wie sonst nie, als wollte sie den Tänzerinnen beweisen, dass auch sie, wenn ihr Schicksal es erlaubt hätte, eine von ihnen hätte sein können. »Alle reden davon, wie großartig du getanzt hast. Du solltest sie mal hören!« Dann folgen die üblichen Klagen: »Dieses blonde Mädchen stand im Weg, als ihr in der Hochzeitsszene in einer Reihe getanzt habt. Ich konnte dich kaum noch sehen.«
Nina kennt das schon; nie ist ihre Mutter rundum zufrieden. »Sie muss vor mir stehen. Das gehört zur Choreographie.«
»Sie hat sich unnötig aufgespielt.«
»Ich sage es ganz bestimmt dem Intendanten.« Nina lacht und küsst ihre Mutter auf beide glatten Wangen. »Es ist schon spät, du solltest nicht auf mich warten.« Sie umarmt sie noch einmal und wünscht ihr eine gute Nacht, froh darüber, dass ihre Mutter an diesem wichtigen Abend bei ihr war. Dann entzieht sie sich den Gratulationen der anderen Tänzerinnen und eilt erschöpft in ihre Garderobe. Kalte, abgestandene Luft, der Geruch von Parfüm und getrocknetem Schweiß. Nina zieht die Schnürbänder auf und befreit ihre geschundenen Füße aus den Spitzenschuhen, ihre armen wundgescheuerten Zehen. Sie pflückt die falschen Wimpern von den Lidern und legt sie in das Kästchen zurück. Auf dem kleinen Wattepolster sehen sie wie zwei Vielfüßer aus.
Es klopft an der Tür. »Herein.«
»Sie waren unnachahmlich.«
Viktor mit einem großen Strauß Rosen im Arm. Nina erschrickt so sehr, dass sie fast ihren Hocker umwirft. »Wie haben Sie mich gefunden?«
»Das war gar nicht so einfach. Ich habe den Türsteher bestochen. Hier, für Sie.«
Meist bestehen die Bouquets aus pflegeleichten Gewächsen wie Tagetes und Lupinen und im Winter aus Kunstblumen: Kapuzinerkresse und Veilchen aus orange- und lilafarbenem Stoff. Aber Rosen … »So viele!«, ruft Nina und beginnt zu zählen, ob es eine ungerade Anzahl ist; eine gerade Anzahl Blumen wäre ein schlechtes Omen.
»Ich wollte Ihnen etwas schenken, das genauso schön ist wie Sie«, sagt Viktor.
»Sie sind wundervoll.« Nina gibt das Zählen auf. »So wie dieser Abend auch. Jetzt ist er vollkommen.«
»Das wird sich erst noch zeigen«, sagt Viktor. »Würden Sie mit mir zu Abend essen?«
Irgendwie schafft sie es, »ja« zu sagen, aber sosehr sie sich auch bemüht, gelassen zu klingen, zittert ihr doch die Stimme. »Ich muss mich nur schnell frisch machen. Diese schreckliche Schminke loswerden.«
»Mir gefällt sie. Sie sehen damit wie eine kasachische Kurtisane aus.«
Die Fundusverwalterin streckt ihren Kopf zur Tür herein, um Ninas Kostüm abzuholen, aber als sie sieht, dass Nina es noch anhat und dass Viktor mit im Raum ist, wendet sie sich wortlos wieder ab. »Dann lassen Sie sich nicht aufhalten«, sagt Viktor. »Ich warte im Flur.« Er verlässt den Raum so plötzlich, wie er gekommen ist.
Rasch reibt sich Nina etwas Öl ins Gesicht und wischt die Schminke ab, die Viktor angeblich so gefällt. Selbst unter der Dusche – der guten warmen Dusche, die so viel stärker ist als die bei ihr zu Hause – spürt sie noch, wie ihr Herz mit den Flügeln schlägt. Sie trocknet sich ab, knöpft den zartrosa Büstenhalter zu, den sie kaum ausfüllt, und wünscht, sie hätte ihr kunstseidenes Kleid mitgebracht. Inzwischen sitzt Polina in der Garderobe auf ihrem eigenen Holzhocker und begutachtet vornübergebeugt ihre wunden Zehen. »Wie sehe ich aus?«, fragt Nina.
»Ganz reizend.« Polina sieht kaum von ihren Füßen auf. Nina zieht ihren sorgsam ausgebesserten Mantel über, setzt eine eng anliegende Schaffellmütze auf und tritt hinaus auf den Flur. Aber dort ist nur ein langes, mit Stoff abgedecktes Hängegestell voller Kostüme für die morgige Aufführung zu sehen. Enttäuschung steigt in ihr auf, bis siehinter dem Kleiderständer Viktor entdeckt. Er steht nachlässig an die Wand gelehnt da, als käme er jeden Tag hierher, und raucht eine Zigarette. Einen flüchtigen Augenblick lang überkommen Nina Zweifel, Furcht sogar – die Angst, dass sein Besuch ein bloßes Manöver sein könnte, dass er nicht der ist, als der er sich ausgibt, dass er nicht dasselbe für sie empfindet wie sie für ihn. Doch dann bemerkt Viktor sie und lächelt breit, und all ihre Zweifel und
Weitere Kostenlose Bücher