Die Tänzerin im Schnee - Roman
breit, das Lächeln eines Lieblingskindes, eines Jungen, der weiß, dass er jeden um den Finger wickeln kann. Als sei sein ganzen Leben ein einziger Sonntag. So viel Leben liegt in diesem Lächeln, dass Nina unwillkürlich versucht, es ihm nachzutun. Zugleich spürt sie auch Furcht – vor der unwahrscheinlichen Selbstsicherheit, die dieser Mann besitzt, als läge ihm die ganze Welt zu Füßen.
Und doch – die Serviette, die so schmerzhaft in sich verdreht daliegt.
Nach dem Essen bietet Viktor ihr an, sie nach Hause zu begleiten. Diesmal zeigt Nina ihm auch die Gasse, die zu ihrem Wohnhaus führt, und hofft halb, halb fürchtet sie, dass er mitkommen und sie im Dunkeln wieder berühren könnte, wie er es bei der Fahrt im Pobeda getan hat. Stattdessen erklärt Viktor, er wolle ihr nachsehen, bis sie wohlbehalten zu Hause angekommen ist. Den ganzen Abend über hat er sich ritterlich verhalten und nur einmal behutsam ihren Arm ergriffen; ein vorbildlicher Kavalier. Als Nina die Gasse hinunterläuft, ist sie etwas enttäuscht und doch auch hocherfreut. Was auch immer sich zwischen Viktor und ihr anbahnt, scheint jetzt reale und respektable Züge anzunehmen.
Erst ein paar Tage später, als sie zu Hause sitzt und sich fragt, wann sie ihn wiedersehen wird, erinnert sie sich erneut an den Anblick der krampfhaft ausgewrungenen Serviette. Als eine Woche vergangen ist und die Rosen zu welken beginnen, ohne dass Viktor sich gemeldet hätte, schneidet sie von jedem Stängel einige Zentimeter ab. Sie bringt einen Topf voll Wasser zum Kochen, taucht die frisch geschnittenen Enden hinein und hält sie kurz dort fest, während der Wasserdampf ihre Hand umhüllt. Rasch, mit von der Hitze geröteter Haut, stellt siesie in die Vase zurück und füllt frisches Wasser nach. Denn wenn sie nur diese Rosen am Leben halten kann …
Eine Stunde später haben sich die Blüten erholt.
Los 23
Parfümflakon. Sterlingsilber mit Stempel, Höhe einschließlich Verschluss
ca. 4,5 cm, Breite ca. 3,2 cm, Schraubverschluss aus Karneol.
Handgemaltes Schmetterlingsmotiv auf cremefarbenem Porzellan
über Glas. Gewicht 18g. 1000 –1500 Dollar
KAPITEL 5
M eine Güte, Carla«, sagte Grigori, als er die Räume des Fremdspracheninstituts betrat. »Sie riechen ja heute richtig appetitanregend.«
»Das ist der Reiniger, den die Raumpfleger neuerdings benutzen. Irgendwas mit Ananas.«
Grigoris Handschuhe waren steif vor Kälte. »Ein Hauch von Tropenklima, wie passend.« Draußen schneite es wieder, winzige Flocken, die der Wind wie einen glitzernden Nebel vor sich hertrieb. Grigori hatte gerade sein Seminar »Akmeistische Lyrik« abgehalten und währenddessen immer noch verärgert über das Rewskaja-Interview vom Vorabend nachgegrübelt. Aber dann hatten seine Studenten ihn mit ihrer sorgfältigen Lektüre und ihrer beinahe zärtlichen Zuneigung zur russischen Sprache aufgeheitert, abgelenkt und ihm zumindest vorübergehend das Gefühl gegeben, zu etwas nütze zu sein.
In seinem Büro schloss er die Tür hinter sich und legte Hut und Mantel ab. Auch dieser Raum roch entschieden nach Piña Colada. Grigori steckte sich eine Zigarette an und ließ sich in seinen soliden, schweren Drehstuhl sinken. An den Wänden hingen gerahmte Zeugnisse mit unleserlichen Schnörkeln darauf, lateinische Bescheinigungen, die heutzutage ohnehin niemand mehr lesen konnte. Seit Christines Tod verspürte er öfter das Bedürfnis, darauf zurückzublicken, sich seiner Erfolge zu versichern. Er hatte einen Namen, hatte es zu etwas gebracht: Grigori Solodin, Leiter des Instituts für Neuere Fremdsprachliche Philologien, Besitzer einer restaurierten viktorianischen Villa (deren Erdgeschoss er an ein Ehepaar vermietet hatte) und eines robusten Audi, der schon Ausflüge nach Tanglewood, nach Jacob’s Pillow und zu verschiedenen Frühstückspensionen in den Berkshires hinter sich hatte. Eine hölzerne Plakette an der Wand gegenüber wies ihn als Professor des Jahres aus, und auch wenn das entsprechende Jahr schon lange zurücklag, hatte es doch immerhin stattgefunden. Trotzdem fragte sich Grigori, ob es nicht besser wäre, die Plakette abzunehmen.Sie kam ihm erbärmlich vor, wie die vergilbten Zeitungsberichte an den Wänden heruntergewirtschafteter Restaurants.
Nein, beschloss er und aschte in einen kleinen Teller, den er zu dem Zweck in einer Schreibtischschublade aufbewahrte, er musste die Plakette dort hängen lassen, für jene Momente, wenn konkrete Gegenstände sein
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