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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Ängste lösen sich in Luft auf.
    Im Argawi setzen sie sich an einen Tisch weit hinten im Saal, wo eine kleine Kapelle georgische Musik spielt. Nina war noch nicht oft in so einem vornehmen Lokal und überlässt es Viktor, die Bestellung aufzugeben: eine Flasche Teliani, Fischsalat und Kaviar zur Vorspeise und Schaschlik als Hauptgericht.
    »Wollten Sie schon immer Dichter werden?«, fragt sie ihn. »Als Kind, meine ich.«
    »Überhaupt nicht. Als Junge wollte ich Polarforscher werden wie alle anderen auch.« Er lacht. Die Musikkapelle ist lauter geworden, und er muss sie übertönen, um Nina zu erzählen, wie er in einer Kleinstadt in der Nähe von Moskau als Einzelkind bei seiner Mutter und seiner Großmutter mütterlicherseits aufgewachsen ist. »Eigentlich war es eher ein Dorf. Mein Vater ist kurz vor meiner Geburt gestorben, und meine Mutter arbeitete als Lehrerin, darum hat sich meine Großmutter um mich gekümmert. Sie war am liebsten den ganzen Tag draußen. Meine wahre Heimat sind die Wälder, sage ich immer.«
    »Mein Vater ist auch verstorben«, sagt Nina. »Als ich drei war. Er hatte eine Blutkrankheit … Was hat Ihre Mutter unterrichtet?«
    Viktor wirkt einen Moment lang überrascht. »Sprachen«, antwortet er hastig, als wüsste er nicht genau, welche.
    »Dann haben Sie Ihr sprachliches Talent wohl von ihr.«
    Er lächelt. »Ja, vermutlich habe ich es ihr zu verdanken. Aber ich hatte nie vor, Dichter zu werden. Sobald ich alt genug war, machte ich eine Ausbildung zum Schweißer.« Er erzählt von den Jahren in der Berufsschule, in der er nie wirklich erfolgreich war. »Industrielle Arbeit lag mir einfach nicht, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Während der Ausbildung dachte ich mir immer wieder kleine Lieder und Verse aus, um durchzuhalten. Um mich davon abzulenken, was fürein Versager ich war. Ich habe sie aufgeschrieben, und irgendwann hat einer meiner Ausbilder sie entdeckt. Er reichte sie bei einer Zeitung ein, die gerade einen Bericht über die Stahlindustrie geplant hatte. Als ich meine Gedichte in der Zeitung sah, war das ein Erfolgsgefühl, wie ich es als Schweißer nie erlebt hatte. Ich glaube immer noch, dass mein Ausbilder das absichtlich getan hat, damit ich die Lehre abbreche und was anderes werde.« Er trinkt einen großen Schluck Wein. »Zum Glück bekam ich dann auch einen Platz am Literaturinstitut.«
    Als das Schaschlik aufgetragen wird, erzählt er Nina von dem Leningrader Dichter, der damals sein Mentor war. Er hat so eine herzliche, direkte Art zu sprechen und diese Leichtigkeit und Offenheit, mit der er ihr geradewegs in die Augen sieht. Dann berichtet er, wie er während des Krieges nach Taschkent evakuiert wurde und dort drei Jahre mit anderen Künstlern verbrachte, mit Musikern, Schauspielern und Regisseuren. »So eine Hitze hatte ich noch nie erlebt«, sagt er und kaut genüsslich auf einem Stück Lammfleisch herum. »Ich habe da zum ersten Mal verstanden, wie man auf die Idee kommen kann, sich in den Schatten statt in die Sonne zu setzen.« Er erzählt von Kamelritten mit den Usbeken, von reifen Aprikosen und von den Maulbeeren, die er aus seinem Fenster im Haus der Moskauer Schriftsteller direkt vom Baum pflücken konnte. »In der Karl-Marx-Straße 17«, murmelt er verträumt. »Und drumherum standen überall Mandelbäume.«
    Dann wird er plötzlich ernst. »Natürlich konnten wir nichts davon wirklich genießen, weil wir wussten, dass jeden Tag viele unserer Brüder ihr Leben ließen. Ich wünschte, ich hätte Seite an Seite mit ihnen in den Kampf ziehen können. Ich hätte es getan, wenn man mich nur gelassen hätte.«
    »Warum hat man Sie denn nicht gelassen?«
    »Ich habe ein Loch im Herzen. Schon seit meiner Geburt. Die Ärzte können es hören, wenn sie mich mit dem Stethoskop abhorchen.«
    »Ein Loch!«
    »Vereinfacht ausgedrückt. Genauer gesagt ist es eine Herzklappe, die nicht richtig schließt. Nichts Lebensbedrohliches, auch wenn mein Pulsschlag dadurch ziemlich unregelmäßig ist. Deshalb wurde ich ausgemustert.«
    Nina erinnert sich, wie sie schon bei ihrer ersten Begegnung sicher wusste, dass er nicht im Krieg gewesen war. Ihr ist klar, dass es sein Status gewesen sein muss, der ihn davor bewahrt hat, nicht sein Gesundheitszustand. Denn gegen Ende des Krieges wurde jeder eingezogen, egal wie krank oder untauglich er war. Nur sein Rang als angesehener Poet kann ihn davor bewahrt haben, an die Front geschickt zu werden – so wie die Tänzer, von denen viele

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