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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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einziger Trost waren: der Dankesbrief eines Tolstoi-Spezialisten, der immer noch an seiner Pinnwand hing; die Gratulation zu seinem zweiten Buch – einer vergleichenden Studie über drei russische Lyriker – von einem allseits verehrten Verleger, der inzwischen verstorben war; die Zuerkennung einer Auszeichnung von der Academy of Arts and Letters. So lange, wie er in diesem Büro schon arbeitete, mochte er sich gar nicht vorstellen, was zu Tage kommen würde, wenn er je den Mut aufbrachte, es gründlich aufzuräumen. Mindestens eine seiner Schreibtischschubladen war bis oben hin mit Korrespondenz aus dem vergangenen Jahrzehnt gefüllt.
    Er hatte zu viel erwartet, das war sein Problem, sagte er sich. Selbst von seiner Bereitschaft, endlich aufzugeben, hatte er zu viel erwartet. Denn jetzt, da er den Bernsteinanhänger weggegeben hatte, fühlte er sich kein bisschen erleichtert. Diesen dicken ovalen Tropfen mit der Überraschung darin … Dieser Anhänger war der einzige Gegenstand aus seiner kleinen Sammlung, den er je Nina Rewskaja gezeigt hatte. Schließlich war er ein Unikat und das einzige Objekt, das ihm wirklich beweiskräftig erschien. Früher hatte er dasselbe auch von den Briefen geglaubt, dass sie unmittelbar überzeugend seien, aber nur, weil er damals jung und unerfahren gewesen war.
… kühl und köstlich, das Schachbrettmuster, das der Schatten dieser Äste bildete. Manchmal glaube ich, dass wir überhaupt nur für perfekte Tage wie diesen auf der Welt sind.
    Diesmal ließ Grigori die Erinnerung zu und ging zu dem hohen, breiten Bücherregal hinüber – einer wahren Wand aus Büchern, die ihn immer wieder glücklich machte. Dort konnte er sein gesamtes über die Jahre erarbeitetes Wissen mit einem Blick erfassen. Er wandte sich dem Bord zu, das er im Stillen seine »Elsin-Abteilung« nannte, und zog einen schmalen gebundenen Band heraus:
Viktor Elsin, Ausgewählte Gedichte, Zweisprachige Ausgabe.
In kleineren Lettern stand darunter: »Übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Grigori Solodin«.Auf dieses Buch war er nach wie vor ehrlich stolz, ganz anders als auf seine Dissertation,
Drei sowjetrussische Lyriker: Eine vergleichende Analyse
, die er nur selten zur Hand nahm, oder
Lesebuch Sozialistischer Realismus
, eine Antologie, für die er unendlich viel Zeit mit dem Einholen von Abdruckgenehmigungen verbracht hatte. Die ganze Zeit über, in der diese beiden Bücher entstanden waren, hatte Grigori nebenbei an der Übersetzung von Elsins Gedichten gearbeitet – eine echte Liebhabertätigkeit, die mit dem Bemühen um akademische Meriten nichts zu tun hatte. Das Buch war in einer Auflage von gerade mal fünfhundert Exemplaren erschienen.
    Vielleicht war das der Grund, warum er die positiven Kritiken zu seinen Übersetzungen in einer eigenen Akte im großen Hängeregisterschrank aufbewahrte. Die meisten stammten nicht von Akademikern, sondern von Dichtern, von Künstlern, deren überragendem Talent Grigori sich höchstens anzunähern hoffen konnte. Einer von ihnen hatte über die Übersetzungen geschrieben, sie träfen Elsins Ton »so genau, wie selbst ich es nicht besser gekonnt hätte«. Ein anderer lobte in einer literarischen Zeitschrift Grigoris »Treue zu den formalen Beschränkungen in Viktor Elsins Werk, ohne dass die mühelose Exuberanz seiner Sprache verlorenginge«. Selbst Zoltan, der in seiner Schulzeit in Ungarn nach dem Krieg Russisch als Pflichtfach gehabt hatte, sagte, Grigori habe ein »lyrisches Gehör« für die Nuancen in Elsins Dichtung.
    Bei alledem konnte man Elsin, so populär er auch zu Lebzeiten gewesen war, kaum als wahrhaft großen Dichter bezeichnen. Seine Werke verdankten ihren Reiz zum Großteil ihrer Schlichtheit, einer Schlichtheit, die nicht nur einem breiten Publikum gefiel, sondern auch seinen Verlegern entgegenkam, die sich natürlich an die offiziellen Vorgaben zu halten hatten. Seine ersten Gedichte verklärten die ländliche Umgebung seiner Jugendzeit und fingen mit Humor und dialektaler Sprache die naive Direktheit ihrer Bewohner ein. Elsin ging spielerisch mit Sprache um, hielt sich aber immer an die staatlichen Anforderungen, Tonfall und Motive betreffend; immer begegnete der arbeitssame Drechsler der holden Maid. Mit zunehmender Reife wurden seine Gedichte so gut, wie sie es innerhalb der klaren Beschränkungen eben werden konnten. Grigori hatte zwar bei derAuswahl für seinen zweisprachigen Band allerhand oberflächliche Werke aussortiert, aber es gab

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