Die Tänzerin im Schnee - Roman
Sie hat gerade eine Matinee hinter sich, nicht im Bolschoi, sondern auf einer kleineren Bühne, eine Privatveranstaltung, um ihr schmales Gehalt aufzubessern. Es ist Sonntag,eine klarer, frischer Nachmittag, kalt, aber nicht schmerzhaft kalt, die Sonne hat gerade erst ihren Abstieg begonnen. Nina fädelt sich in den Strom der Fußgänger ein, die dicht an dicht den Gehweg entlangschlendern und ihren freien Tag genießen. Und da entdeckt sie vor sich, an einem Zeitschriftenkiosk an der nächsten Ecke, die Blonde vom Empfang – Lilja, die
bemerkenswerte Frau
, in einem grauen Pelzmantel, mit einem kleinen, dunklen Hut, der nur umso mehr ihr goldglänzendes Haar betont. Dann sieht sie einen hochgewachsenen, eleganten Herrn vor dem hölzernen Verkaufstresen stehen und Zigaretten kaufen, halb verdeckt von den vielen Passanten und unter Hut und Schal nicht genau zu erkennen, aber … doch, es ist Viktor, groß und hager und offensichtlich wohlauf. Ninas Herz zieht sich zusammen.
Sie will ihn zur Rede stellen, sie wird, sie muss es tun und nimmt all ihren Mut zusammen. Aber dann kommt sie im Pulk der Passanten nicht vorwärts, und die blonde Frau verliert sich mit dem hochgewachsenen Mann irgendwo in der Menge.
Nina schließt die Augen und nimmt sich vor, die ganze Sache abzuhaken. Sie ist jung, sie wird ihn vergessen, sie braucht diesen Mann gar nicht. Statt nach Hause zu gehen, läuft sie einfach weiter geradeaus, als könnte sie, wenn sie nur weit genug geht, diese fiebrigen Gedanken hinter sich lassen. Im Stillen vertraut sie sich der besten Freundin an, die ihr in Wirklichkeit fehlt, erklärt ihr, wie es vor gerade mal zwei Wochen mit Viktor war, dieses Gefühl der Nähe, das ihr so real vorkam. Jemandem so sehr zu vertrauen, ohne Zweifel und Unbehagen … vielleicht ist das unmöglich. In einer Seitenstraße jauchzen und rufen Kinder, die sich auf dem rauen Eis eine Rutschbahn gebaut haben. Eine Woge der Erinnerung überrollt Nina: Der staubige Hinterhof, Vera, mit der sie dort stundenlang spielte, wie sie zusammen so sehr lachten, dass sie gar nicht wieder aufhören konnten. Dann verebbt die Woge wieder, und Nina läuft weiter die Straße entlang, allein.
Sie geht und geht am Ufer der Moskwa entlang. Aus den Lautsprechern dringen die jubelnden Stimmen eines Männerchors. Allmählich ändern sich die Farben auf dem Fluss, verfärben sich die Eisschollenzartrosa, während die Sonne schwindet. Dann wird ihr plötzlich kalt, so kalt; die Füße schmerzen, und ihr Gesicht ist fast taub.
Am nächsten Tag entdeckt sie einen Zettel auf dem Boden ihrer Garderobe, einen Brief, den jemand unter der Tür durchgeschoben hat.
Bitte entschuldigen Sie, dass ich so lange nicht da war. Meine liebe Mutter war wieder krank, und ich konnte nicht weg. Es tut mir sehr leid, und wenn Sie erlauben, möchte ich Sie heute Abend zum Essen ausführen. Viktor
So, seine Mutter. Aber als Nina Viktor nach der Aufführung im Flur vor ihrer Garderobe lässig an der Wand lehnen sieht, sagt sie nur so kühl wie möglich: »Ich hatte nicht mehr mit Ihnen gerechnet.«
»Verzeihen Sie mir. Ich musste wegen meiner Mutter zu Hause bleiben. Aber seien Sie ihr bitte nicht böse.«
»Durchaus nicht. Ihnen bin ich böse.«
Viktor lächelt nur. »Und wenn ich sagen würde, dass es bestimmt nicht noch einmal vorkommt?«
»… würde ich Ihnen kein Wort glauben.« Nina staunt selbst, wie gefasst sie klingt. »Ich habe Sie mit dieser Frau gesehen, mit Lilja.«
Viktor wirkt eher überrascht als beunruhigt. »Wann, gestern? Im Restaurant? Warum haben Sie uns nicht Gesellschaft geleistet?«
»Ich wollte Sie nicht in Ihrer Zweisamkeit stören.«
»Aber wir waren doch nicht zu zweit, da war noch … Sie glauben doch nicht … Ich habe doch schon erklärt, dass wir alte Freunde sind.« Er lacht, als sei das alles völlig unbedeutend. »Schmetterling, falls Ihnen das weiterhilft: Sie ist inzwischen auf dem Weg in die Ukraine, um dort eine sehr attraktive Stelle am Theater anzutreten. Aber selbst wenn sie hier leben würde, Nina, verstehen Sie doch …« Er schüttelt den Kopf, und plötzlich ändert sich sein Gesichtsausdruck. Zum ersten Mal in der kurzen Zeit, seit Nina ihn kennengelernt hat, scheint er wirklich sprachlos zu sein. »Mit Ihnen ist etwas passiert«, sagt er und sieht sie an. »Irgendetwas ist passiert.«
»Was ist passiert?« Sie hört die Besorgnis in ihrer Stimme.
Er schüttelt noch einmal den Kopf. »Ich möchte einfach nur bei Ihnen
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