Die Tänzerin im Schnee - Roman
ob sie immer noch Gedichte
las, sagte sie, sie hätte den Geschmack daran verloren. Das waren ihre Worte: den Geschmack verloren. Ich fragte, wie das hätte passieren können, und sie sagte, sie hielte es mit Platon, oder jedenfalls mit Platon, wie sie ihn verstand: Dichtung hätte immer etwas Unehrliches und sie stimme mit ihm überein, dass sie aus der Gesellschaft ausgeschlossen gehörte. Ich war natürlich entsetzt.
Zoltan blickte wieder zu Grigori auf und sagte: »Das werde ich Platon nie verzeihen.«
Dann las er weiter:
Sie meinte damit, erklärte sie mir, dass die einzige Wahrheit das Leben sei, das wirkliche Leben, dass seine poetische Überhöhung immer unehrlich sei und sie davon nichts mehr hielte. Ich brachte den Mut auf einzuwenden, dass ihr Mann darüber sicher anders gedacht hätte. Aber sie sagte, nein, er sei es gewesen, der ihr Platons Standpunkt nahegebracht habe, und er habe sehr wohl gewusst, dass seine Gedichte nicht die Wahrheit sagten. Die Wahrheit, an die er glauben wollte, habe nie existiert, sagte sie, nur deshalb habe er sie auf dem Papier selbst erschaffen müssen. Sie sagte: »Er wollte daran glauben, aber ich denke nicht, dass er es konnte.« In dem Moment kam Roger herübergewankt, dem inzwischen eine Christbaumkugel aus dem einen Nasenloch baumelte, und –
»Tja, das war’s. Damit war das Gespräch beendet.«
Grigori nickte bedächtig und fragte sich, ob es stimmte, was Nina Rewskaja gesagt hatte. »Vielen Dank, dass du mich darauf aufmerksam gemacht hast. Das stellt seine Dichtung definitiv in ein neues Licht.«
»Ich kopiere dir die Stelle, wenn du willst. Komisch, wie gründlich man so was vergisst. Erst durch den ganzen Wirbel um die Schmuckauktion habe ich mich wieder daran erinnert.« Schon sammelte Zoltan seine Tragetaschen auf und wandte sich zum Gehen. »Einen guten Tag wünsche ich dir, Grigori. Die Kopien lege ich in dein Fach. Schon faszinierend, wie unterschiedlich man die Dinge manchmal wahrnehmen kann, je nachdem, wonach man sucht.«
Zoltan trottete davon, und Grigori wollte schon die Tür hinter ihm schließen, als Carla den Kopf hindurchsteckte: »Sie wissen doch, dass im ganzen Gebäude Rauchverbot herrscht.«
Ein neues Jahr fängt an; schmutziggraue Eiszapfen hängen von Dachrinnenherab, und die Sonne kriecht nicht vor zehn über den Horizont. Fest verriegelte Fenster, mit Watte abgedichtet, die der Ruß schwarz verfärbt. Mutter erledigt ihre täglichen Gänge zur Arbeit, zum Einkaufen, ins Krankenhaus und ins Gefängnis, zu diesem bedürftigen Freund und jenem Verwandten, und Nina eilt zwischen morgendlichen Tanzlektionen und Marxismus-Schulungen, nachmittäglichen Proben und abendlichen Auftritten hin und her. Dazu kommt der »Gemeindienst« – lange Busfahrten in entlegene Ortschaften, in denen sie vor Landarbeitern oder Fabrikbelegschaften tanzt. Zusätzliches Geld verdient sie mit Auftritten für Organisationen, Institutionen und Akademien, hetzt von einem Konzertsaal zum nächsten. Wenn sie sich überarbeitet hat, fühlt es sich an, als würde ihr ganzer Körper inwendig zittern. Muskelverhärtungen in den Beinen, den Hüften, den Füßen. Die Strumpfhosen an den Fußspitzen blutdurchtränkt. An besseren Tagen findet sich eins zum anderen; ihr Körper gehorcht und überrascht sie sogar mit neuen Höchstleistungen. Dann wieder verweigert er sich ihr. Immer und immer wieder reinigt sie ihre Spitzenschuhe, bügelt ihre Kostüme, näht neue Elastikbänder an ihre Schläppchen. Erträgt die Kommentare ihrer Lehrer, vergießt gelegentlich Tränen. Die niederschmetternde Unerreichbarkeit der Perfektion … Sie küsst ihre Mutter auf beide Wangen und läuft in das Dämmerlicht der Gasse hinaus, an spielenden Kindern vorüber, deren fröhliches Geplapper glockenhell die schneidend kalte Luft durchdringt. Auf der Hauptstraße rollen rettungslos überfüllte Straßenbahnen an ihr vorüber, an denen sich die zu spät gekommenen Passagiere von außen festklammern, und Nina eilt weiter in ihre Welt der Strumpfhosen und Tutus, der hastig aufgetragenen und rasch wieder abgewischten Schminke, der goldenen Kordeln und dicken Vorhänge, die sich heben und wieder senken. Und immer wartet sie auf Nachricht von Viktor.
Seit ihrem gemeinsamen Abendessen sind zwei Wochen vergangen. Hat sie etwas Falsches gesagt, hat er jemand anders kennengelernt – oder ist ihm am Ende etwas Entsetzliches zugestoßen?
Dann, eines Tages, sieht sie ihn.
Oder sie glaubt, ihn zu sehen.
Weitere Kostenlose Bücher