Die Tänzerin im Schnee - Roman
sein.«
Und zu Ninas größter Verwunderung scheint genau das der Fall zu sein. Von dem Abend an führt Viktor sie zum Abendessen aus,nimmt sie in verrauchte Kaffeehäuser mit und in überfüllte, laute Tanzlokale, und seine ungezwungene Art lässt sie all ihre Sorgen vergessen. Die unsichtbare Barriere, die sonst zwischen ihr und jeder neuen Bekanntschaft liegt, existiert gar nicht. Ein ungeahntes Verlangen ergreift von ihr Besitz, das über das Körperliche weit hinausgeht: das Verlangen, diesen Menschen bis in sein Innerstes zu durchdringen, sämtliche Facetten seiner Persönlichkeit kennenzulernen, mit allen Widersprüchlichkeiten. Zum ersten Mal in ihrem Leben verspürt Nina nicht nur das Interesse, sondern die Notwendigkeit, jemanden ganz zu verstehen.
Viktor ist ein zuvorkommender, höflicher und verlässlicher Kavalier, und das Einzige, was Nina noch beunruhigt, ist, wie plötzlich sich seine Wandlung vollzogen hat. Dass es keine andere gibt, glaubt sie ihm. In den wenigen Momenten, in denen sie allein sind – in der Garderobe, wenn Polina nicht da ist, in einem leeren Flur oder in der Dunkelheit der gepflasterten Gasse zu ihrem Haus, küsst er sie heimlich und behutsam und flüstert ihr zärtliche Worte ins Ohr. Manchmal berührt er sie so, wie er es damals im Auto getan hat, und sie begreift nicht, wie sie überhaupt so lange ohne diese angenehmen Überraschungen leben konnte. Nachts kommt sie spät nach Hause, wenn ihre Mutter schon leise schnarcht, und schlüpft glücklich in ihr schmales Feldbett.
Manchmal wacht ihre Mutter auch auf. »So spät!«, ruft sie beunruhigt.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken«, antwortet Nina.
»Die Mutterhenne schläft eben erst, wenn all ihre Küken wohlbehalten zu Hause sind.«
»Ha! Du solltest dich mal schnarchen hören.«
Mutter lacht leise mit ihrer mädchenhaft hellen Stimme. »Du scheinst glücklich zu sein.« Dann wird sie wieder ernst. »Ich will doch nur, dass du vorsichtig bist. Dass du dich nur mit Leuten einlässt, denen du wirklich vertrauen kannst.«
»Mach dir bitte keine Sorgen.«
Ihre Mutter seufzt. »Für mich bist du eben immer noch mein kleines Mädchen.« Und obwohl Nina Viktor noch mit keinem Wort erwähnt hat, fährt sie fort: »Ist er denn auch gutaussehend?«
»Sehr sogar.«
»
Sehr sogar!
« Sie schweigt einen Augenblick. »Wenn er sich unziemlich benimmt, weißt du ja, wohin du ihn treten musst.«
»Mutter!« Nina lacht.
Der lange, dunkle, in Wellen anbrandende Winter, die extreme Kälte, das triste Grau des Himmels, verrußter Schnee, der vereist und taut und wieder gefriert – das alles erscheint Nina auf einmal, dank Viktor, wunderschön. Sie lernt seine Freunde und Bekannten kennen: ein Übersetzerehepaar, einen großspurigen jungen Literaten aus Sibirien, einen blassen nervösen Theaterschriftsteller, der alle naselang irgendetwas um- oder auskippt. Zu den etwas Älteren zählen der glatzköpfige Akademiker Rudnew, der Architekt Kaminski und die Leiterin des Archivs für Leibeigenschaft und die Feudalzeit. Aber Viktors Wohnung hat Nina noch nicht gesehen und noch nicht seine Mutter kennengelernt.
Eine ihrer neuen Bekanntschaften ist Viktors engster Freund, der Komponist Aron Simonowitsch Gerschtein, genannt Gersch. Er unterrichtet am Moskauer Musikkonservatorium und lebt in demselben Gebäude, in dem auch Viktor und seine Mutter untergebracht sind, einem großen, im Besitz des Bolschoi befindlichen Bau unweit des Theaterplatzes. Es ist ausschließlich Komponisten, Schauspielern und Künstlern vorbehalten und viel gepflegter als das muffige Bauwerk, in dem Nina und ihre Mutter leben. Wie alle großen Mietshäuser wird es außen von Milizsoldaten bewacht und riecht innen nach Bratfett.
Jedes der drei Stockwerke hat einen langen dunklen Flur mit vielen, vielen Türen. Wenn Nina und Viktor Gersch besuchen, öffnen sich diese Türen eine nach der anderen einen Spaltbreit, und misstrauische Augenpaare lugen dahinter hervor. Egal um welche Uhrzeit, es ist immer jemand da, der auf den Fluren raucht, der gerade telefoniert, sich lauthals über etwas beschwert oder Bratkartoffeln zubereitet. Gerschs Zimmer liegt in der hinteren Hälfte des Flurs und wird zum größten Teil von einem Konzertflügel eingenommen.
Gersch selbst ist ein breitschultriger Mann von Anfang dreißig mit dichtem braunem Haar, das vorn auszufallen beginnt. Graugrüne Augen hinter kleinen runden Brillengläsern, und eins davon schielt ein wenig Richtung
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