Die Tänzerin im Schnee - Roman
Nase, als hätte ein Schlag an den Kopf es verrutschenlassen. Dennoch wirkt er nicht unattraktiv, vielleicht wegen des lebhaften Funkelns in seinen Augen. »Kommt rein, kommt rein«, sagt er, als Viktor Nina zum ersten Mal mitbringt. »Wie schön, Sie endlich persönlich kennenzulernen, Schmetterling.« Er küsst ihr die Hand. »Und dich zu sehen, Viktor. Ihr kommt gerade rechtzeitig, um den Tee zu probieren, den Zoja zusammengebraut hat.«
»Zoja?« Viktor formt den Namen lautlos mit den Lippen und sieht Gersch fragend an. Gersch zuckt entschuldigend die Schultern. Aber Viktor wirft Nina einen warnenden Blick zu. Sie sieht unauffällig zu der zierlichen, dunkelhaarigen Person hinüber, die sich am anderen Ende des Zimmers mit einer Teekanne zu schaffen macht.
»Viktor Alexejewitsch!«, ruft Zoja und blickt auf. Ihr gelocktes Haar trägt sie kurz, und einzelne dunkle Löckchen rahmen ihr Gesicht. »Wir haben uns wirklich schon viel zu lange nicht gesehen. Und wie schön«, sagt sie, an Nina gewandt, »
Sie
zu treffen. Ich habe Sie tanzen sehen. Unglaublich, sage ich immer. Legen Sie doch ab, bitte. Ich liebe das Ballett. Wollte selbst immer Tänzerin werden.« Sie spricht sehr schnell und lispelt etwas; Nina muss sich anstrengen, alles zu verstehen. »Sie kommen wirklich gerade richtig. Probieren Sie unbedingt diesen Tee. Ich mache ihn zum ersten Mal.« Das Rezept, erklärt sie, sei von einem chinesischen Arzt, der ihr auch selbst die getrockneten Blüten dafür gegeben habe. »Wenn man ihn jeden zweiten Tag trinkt, hat er gesagt, lebt man bis zu zehn Jahre länger.«
»Du meine Güte«, versetzt Viktor, »was sollen wir mit so viel zusätzlicher Zeit bloß anfangen?«, und Gersch sagt: »Die Frage ist doch, was passiert, wenn man ihn
jeden
Tag trinkt?«
»Die Blüten öffnen sich nur alle vierundzwanzig Stunden, glaube ich«, sagt Zoja. »Oder so ungefähr. Den Namen habe ich jetzt vergessen, aber es soll wirklich sehr gesund sein. Er hat mir erklärt, warum.«
»Warum denn?« Nina bemüht sich, all die neuen Eindrücke zu verarbeiten – Zojas ununterbrochenen Redeschwall, das unbekannte Zimmer und Gerschs leicht asymmetrischen Blick. Der Tee riecht stark, fremd und bitter.
»Ich weiß es wirklich nicht mehr. Aber irgendwie reinigt er die Eingeweide, oder so ungefähr.« Zoja nickt, dass ihre kleinen Locken wippen.Auch ihre Wimpern sind stark gebogen, und sie klimpert damit, wie Nina es sonst nur von der Bühne her kennt.
»Ihr müsst das natürlich nicht trinken«, sagt Gersch. »Zoja wäre bestimmt nicht beleidigt. Stimmt’s, Nudelchen?«
Nina kann ihren Blick einfach nicht von Gerschs schielendem Auge abwenden, das ihn in Kombination mit der Brille entweder intellektuell oder verschlagen aussehen lässt, schwer zu sagen, was eher. »Natürlich probieren wir ihn«, sagt sie, weil sie sich nicht traut abzulehnen. »Mir ist alles recht, was mir hilft, den Winter gesund zu überstehen.«
»Der Doktor war noch nie krank, hat er gesagt.« Zoja schenkt den Tee in kleine angeschlagene Porzellantassen. Ihre Hände wirken mädchenhaft klein. Der Samowar ist eins der neueren, preisgünstigen Modelle aus Aluminium.
»Bitte, setzt euch doch«, sagt Gersch und lässt sich auf einer Ecke des abgewetzten Diwans nieder, gegenüber einem Bett mit Daunendecke und rotem Seidenüberwurf. Ansonsten besteht das Mobiliar aus drei Mahagoni-Stühlen, einem Kleiderschrank, einem Waschtisch, einem großen Radioempfänger auf einer niedrigen Kommode, vielen Regalen voller Notenhefte, aus denen lose Seiten hervorquellen, und einem zierlichen runden Tisch mit kunstvoll gedrechselten Beinen. Auf dem Tisch stehen eine Schale mit Eiern und eine kleine Schüssel schwarzen Pfeffers: kostbare Ware. Außerdem fällt Nina auf, dass Gersch ein eigenes Telefon besitzt – ebenfalls auf der Kommode – und einen tragbaren Ofen. Viktor und seinesgleichen sind so offensichtlich privilegiert, behütet wie Fabergé-Eier; so wertvoll, dass man sie in Taschkent in Sicherheit bringen musste.
»Diese Tasse ist angeschlagen«, klagt Zoja, als Nina und Viktor es sich auf den Mahagonistühlen bequem machen. »Passt also auf eure Lippen auf. Ach, und die hier, sieh doch, ich habe doch gesagt, dass sie gesprungen ist. Verbrennt euch bloß nicht. O weh, jetzt hätte ich fast übergegossen. Ich hoffe, er schmeckt wenigstens!« Und so immer weiter, bis Gersch den Trinkspruch ausbringt: »Auf ein langes Leben und immer volle Tassen.«
Kein sehr
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