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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Schwärze, in der sie nicht einmal wusste, wo sie war. Aber die von den Tablettenherbeigezwungene Schläfrigkeit ließ sie auch tagsüber nicht los und machte sie viel zu mitteilsam. Manchmal ertappte sie sich dabei, am helllichten Tag einzudösen; einmal war sie mit Speichelflecken auf der Bluse im Rollstuhl aufgewacht. Dann entsagte sie den Tabletten wieder, und alles begann von vorn.
    Mit dem neuen Brief auf dem Schoß rollte Nina in ihr Arbeitszimmer und schloss die Schreibtischschublade auf, in der ganz hinten immer noch das erste Schreiben lag. Wieder hätte Nina es am liebsten mit ihren gichtigen Händen zerknüllt, aber sie wusste, dass das nicht weiterhelfen würde. Sie fischte den Umschlag aus der Schublade und zog seinen Inhalt heraus, einem unguten Drang folgend, der ihr eingab, sich noch einmal anzusehen, was sie schon längst hatte vergessen wollen. Mit zittrigen Fingern faltete sie den Briefbogen auf und zog die Fotografie daraus hervor. Die Aufnahme war in Farbe und bemerkenswert detailliert. Es musste wohl eins dieser Digitalfotos sein, von denen heutzutage überall die Rede war. Auch die junge Frau von Beller hatte gesagt, sie wollten digitale Aufnahmen anfertigen, um sie für potentielle Bieter »online zu stellen«.
    Dieses Bild war eine Nahaufnahme und zeigte den Anhänger in seiner tatsächlichen Größe, von den Maßen einer größeren Hustenpastille. Nina war zum zweiten Mal überrascht davon, wie genau die Farbe ihren Erinnerungen entsprach – wie ein dicker, warmer Löffel voll Honig. Sie betrachtete das Foto näher. Trotz ihrer zittrigen Hände konnte sie gut erkennen, was in dem Bernstein eingeschlossen war. Doch es kam ihr falsch vor, so genau hinzusehen. Wieder überkam sie dieses furchtbare Gefühl. Sie musste die Sache endlich abschließen.
    Nina legte das Bild verdeckt zur Seite, griff nach einem Bogen Briefpapier und schraubte die Kappe von ihrem Füllfederhalter. »Sehr geehrter Herr Solodin«, begann sie mit dünner blauer Tinte zu schreiben, »ich habe Ihren Brief erhalten.« Sie sah, wie sich die Buchstaben ebenso eng aneinanderpressten wie ihre verkrampften Fingerknöchel. Kurz ließ sie die Hand sinken und sann über die nächsten Sätze nach – entschlossen und endgültig sollten sie klingen –, aber schon begann sich dort, wo die Feder das Papier berührte, ein blauer Fleck auszubreiten. Als sie ihn anstarrte, wurde ihr bewusst, dass sie sich wiederso verhielt wie immer: dass sie zu hastig reagierte, zu unüberlegt, ohne innezuhalten und erst einmal tief durchzuatmen. Sie schraubte den Füllfederhalter wieder zu und verstaute das Blatt Papier zusammen mit Grigori Solodins Briefen in der Schublade. Keine überstürzten Entscheidungen mehr, sagte sie sich. Diesmal wollte sie sich Zeit dafür nehmen, was genau als Nächstes zu tun war.
     
    Nicht lange nach dieser ersten Begegnung mit Gersch nimmt Viktor sie noch einmal mit zu demselben großen quadratischen Gebäude, an denselben gelangweilten, frierenden Milizionären vorbei – aber diesmal betreten sie es von der andere Seite und suchen das Zimmer auf, in dem Viktor mit seiner Mutter lebt. Es zweigt wie das von Gersch von einem dunklen Flur ab, nur diesmal ganz an dessen Ende, wo das Telefon steht. Eine Frau im Bademantel führt dort gerade ein lautstarkes Gespräch und sieht nur flüchtig zu Viktor und Nina auf, als er sie bittet einzutreten. Der dunkle, staubige Raum mit Fenstern auf die Schtschepkinski-Gasse ist in der Mitte durch eine selbst gebaute Wand abgeteilt, so dass Viktors Mutter ihr eigenes Zimmer hat. »Aber verrat es bloß niemandem!«, mahnt er sie spaßhaft – wenn bekannt würde, dass er zwei Zimmer bewohnt, würde eins davon bestimmt gleich einer anderen Familie zugeteilt.
    »Psst, sonst wecken wir sie noch!«
    »Keine Sorge, sie hört so gut wie gar nichts. Sie ist sozusagen vorsätzlich ertaubt.«
    »Das muss sie wohl auch, so direkt neben dem Telefon.« Nina hört deutlich die Frau im Flur: »Achtzig Rubel hast du gesagt. Nein, ich habe mich nicht ›verhört‹.« Trotz der späten Stunde sind vom Flur her auch sonst viele Geräusche zu hören: ein Husten, das Miauen einer Katze, das Geklapper von Kochgeschirr.
    Die Sperrholztür zu dem Bereich von Viktors Mutter ist geschlossen und durch den Spalt darunter kein Licht zu sehen. »Außerdem schläft sie tief und fest«, fügt Viktor hinzu, aber Nina fühlt sich unbehaglich dabei, mit ihm allein zu sein. Er küsst ihr den Nacken und lässt seine

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