Die Tänzerin im Schnee - Roman
Eingangshalle lag, sah uninteressant aus – bis Nina den cremefarbenen Umschlag ganz obenauf entdeckte.
Sie manövrierte ihren Rollstuhl näher heran, um zu sehen, ob sie richtig vermutete. Ja, er sah genau wie der andere aus, mit einer genausoselbstbewusst in schwarzer Tinte handgeschriebenen Adresse darauf.
Erst saß sie eine Weile nur da und sah den Brief an. Dann beugte sie sich vor, um ihn hochzuheben, aber ihre Hand erreichte nicht annähernd den Boden. Schon das empfand sie als Zumutung, als Beleidigung. Dennoch versuchte Nina es noch einmal, indem sie erst tief ein- und ausatmete, wie sie es vor so vielen Jahren gelernt hatte. Sie atmete ein und aus und streckte sich, atmete noch einmal ein und aus und kam tatsächlich dem Brief ein wenig näher. Nina holte wieder tief Luft und streckte sich beim Ausatmen. Wieder reichte ihre Hand ein Stück weiter hinab. Aber nicht weit genug.
Nach einer kurzen Verschnaufpause versuchte sie es noch einmal. Sie wusste, dass es Zeit brauchte, körperliche Herausforderungen zu meistern. Einatmen, ausatmen, strecken. Sie kam langsam ihrem Ziel näher, arbeitete sich mit bloßer Willenskraft Zentimeter um Zentimeter voran. Jetzt erreichte ihre Hand schon fast den Boden. Nur noch ein Mal einatmen und wieder ausatmen. Ihr Arm streckte sich unwahrscheinlich weit, und ihre Hand zitterte, als sie nach der Ecke des Umschlags tastete. Aber dann gab ihre rechte Körperhälfte plötzlich nach, sie kollabierte einfach, ohne Vorwarnung. Nina sackte über die Armlehne gebeugt in sich zusammen, und ein jäher Schmerz packte sie bei den Rippen.
Danach musste sie sich bis fünf Uhr gedulden, bis endlich Cynthia auftauchte. »Bitte schön, meine Süße.« Armreife aus Jade klapperten aneinander, als sie Nina den ganzen Stapel überreichte.
»Danke sehr.« Nina tat, als interessiere die Post sie nicht besonders. Doch sobald Cynthia in der Küche verschwunden war, um das Abendessen vorzubereiten, griff sie rasch nach dem cremefarbenen Umschlag, riss ihn auf und zog den Brief hervor.
Madam,
wie Sie sich vielleicht vorstellen können, war ich überrascht, als ich hörte, dass ihre Juwelen bei Beller versteigert werden. Und als ich erfuhr, dass auch der Bernsteinschmuck, der zu meinem Anhänger passt, zur Auktion freigegeben ist, konnte ich nicht umhin, mich schuldig zu fühlen.
Bitte glauben Sie mir, dass ich nie vorhatte, Sie mit meinem Anliegen unter Druck zu setzen. Alles, was ich wollte, war, Ihnen mit jenen wunderschönen Stücken, die Sie und ich besitzen, zu beweisen, dass zwischen uns eine reale, unbestreitbare Verbindung existiert.
Dass Sie diese Verbindung nicht nur nicht anerkennen, sondern sich im Gegenteil aller greifbaren Beweise entledigen, lässt keinen Zweifel darüber zu, was Sie von mir oder von diesem Teil Ihrer Vergangenheit halten. So schmerzhaft es für mich sein mag, bin ich doch entschlossen, Ihre Entscheidung zu respektieren. Aus eben diesem Grund habe ich mein eigenes Erinnerungsstück der Sammlung hinzugefügt.
Schließlich hat es mir, so unschätzbar wertvoll es auch jahrzehntelang für mich war, bis heute nicht geholfen, Licht ins Dunkel zu bringen. Es ist mir daher ein Bedürfnis, den Kettenanhänger mit den dazugehörigen Schmuckstücken zusammenzuführen und auf diese Weise wenigstens das Set, wenn auch vielleicht nur vorübergehend, wieder zu vervollständigen.
Diese Entscheidung habe ich aus Respekt getroffen, ohne irgendwelche Hintergedanken. Zugleich hoffe ich weiterhin, dass ich eines Tages die Gelegenheit haben werde, mit Ihnen persönlich die Fragen zu klären, die mir nach wie vor auf der Seele brennen. Weil ich Ihre Privatsphäre respektiere, habe ich gegenüber dem Auktionshaus auf Anonymität bestanden. Ich hoffe, dass dieser Respekt auf Gegenseitigkeit beruht und Sie sich nun bereitfinden werden, mit mir zu sprechen.
Hochachtungsvoll,
Grigori Solodin
Irgendetwas Furchtbares durchwühlte ihr Inneres. Der Schmerz in ihren Hüften flammte wieder auf, obwohl sie erst vor drei Stunden zuletzt Tabletten genommen hatte. Auch in der vorigen Nacht hatte sie kapituliert, obwohl es ihr manchmal gelang, tagelang ohne auszukommen. Dann wiederum wurden die Schmerzen so stark, dass sie sie nachts weckten, dass Nina gar nicht erst einschlafen konnte oder dass sie aufschrie, bevor sie sich zurückhalten konnte, sogar vor ungebetenen Zeugen wie Cynthia. Die nächtliche Dunkelheit ihres Schlafzimmers machte alles noch schlimmer, die vollkommene
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