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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Hände über ihren Hintern gleiten. Nina sieht immer wieder zur Tür hinüber und erwartet jeden Augenblick, dass sie sich öffnet, während Viktor sie zum ersten Mal auszieht und zu seinem Bettführt. Die Strohmatratze ist dünn und kratzig, das Kissen schwer wie ein Sandsack, und dann fühlt Nina nur noch seine Hände auf ihrer Haut, seine Finger, die sich in ihr Inneres vortasten. »Ist schon gut«, flüstert er, als sie gegen ihren Willen aufschreit. Es ist sehr spät, als er sie schließlich nach Hause begleitet und sie in ihr eigenes schmales Feldbett schlüpft.
    Von dem Tag an nimmt Viktor sie öfter mit nach Hause, immer so spät, dass seine Mutter schon das Licht gelöscht hat und die anderen Hausbewohner ihren nächtlichen Routinen nachgehen. Als sich Viktor eines Nachts zum ersten Mal fest an sie schmiegt, macht sie ein überraschtes Geräusch. Viktor lacht und setzt sich auf, streicht ihr das gelöste Haar zurück und blickt fasziniert auf sie hinab. »Dann stimmt es also?«, fragt er mit einem zufriedenen Lächeln. »Du hast das hier noch nie getan?«
    »Nein«, sagt sie, »allerdings nicht.«
    Viktor schüttelt wie ungläubig den Kopf. »Aber du musst doch irgendwann mal eine Romanze erlebt haben!«
    »Nein, nie.« Was Viktors Romanzen angeht, so hat sie keinerlei Verlangen, davon zu erfahren. Er ist zehn Jahre älter als sie, und es fällt ihr schwer genug, sich seine vielen Frauen nicht lebhaft vorzustellen. Manchmal tauchen sie unvermittelt vor ihrem inneren Auge auf, nicht nur Lilja … eine dunkeläugige Dichterin in Taschkent oder eine Schauspielerin am Wachtangow-Theater, Künstlerinnen und Schriftstellerinnen, die weniger naiv sind als sie selbst.
    Viktor lacht. »Aber die Männer, mit denen du tanzt, fassen dich doch immer überall an.«
    »Das ist etwas ganz anderes.«
    »Für sie vielleicht nicht.«
    Sie bemüht sich, ihm zu erklären, dass die Hände ihrer Tanzpartner sie an den Hüften, beim Heben oder Drehen, nicht intimer berühren als die der Garderobieren, wenn sie die Haken und Ösen ihres Kostüms schließen. Und doch kann sie nicht umhin, die Männer im Ensemble bei den nächsten Proben zu beobachten, um herauszufinden, ob Viktor nicht doch recht hat. Sie hat so lange nur auf sich selbst geachtet, auf ihr eigenes Bild im großen Spiegel, ihre zweiunddreißig Fouettés hintereinander, dass sie sich um andere gar keine Gedankenmachen konnte. Andrei, mit dem sie am häufigsten tanzt und dessen starken Händen sie am meisten vertraut (auch wenn sie bei schwierigen Figuren Blutergüsse auf ihren Rippen zurücklassen), hat ganz sicher kein besonderes Vergnügen daran, ihren Körper zu berühren. Überhaupt scheint er sich für keine der Ballerinas zu interessieren und verlässt das Theater nach der Probe wie immer mit Sergej, einem der Gruppentänzer.
    Nina kommt sich dumm vor, weil sie es so lange nicht begriffen hat. Aber über diese Dinge wird nie offen gesprochen. Plötzlich hat sie Angst: Jeden Moment könnten die beiden als »gesellschaftsgefährdend« eingestuft und zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt werden.
    Für Nina selbst wird es schwerer, sich zurückzuhalten, ihren Körper zu zügeln. Mehr als ein Jahrzehnt hat sie damit zugebracht, ihn zu perfektionieren, zu einem Instrument ihrer Kunst zu formen, und nun lernt sie mit Viktors Berührungen ganz neue Gefühle und Verlockungen kennen. Sie muss fortwährend daran denken, was Viktor mit ihr anstellt, was sie beide miteinander tun. Die Gedanken sind wie feiner Sand, der durch die Finger rinnt; wieder und wieder greift sie danach.
    Eines Nachts, im Vorfrühling, gibt sie nach. Sie liegen auf seiner schmalen Matratze, ihre Hände umklammern das eiserne Bettgestell. In der Luft hängt ein schwacher Geruch von Schweiß und von Peut-Être – einem echten französischen Parfüm, das Viktor ihr in einem Flakon aus Silber und Porzellan geschenkt hat. Auf das Porzellan ist ein kleiner Schmetterling gemalt.
    »Willst du die nicht endlich ausziehen?«, flüstert Viktor und zupft an ihrer Unterhose. Nina zieht ihm seine aus, und dann sind da nur noch ihre Körper, das überraschende Gefühl, ihn in sich aufzunehmen, ihre starken Beine um seine Hüften, die ihn halten, näher heranziehen, sein Gewicht auf ihr und das Beben in ihrem Inneren. Sein Mund sucht ihr Gesicht, ihren Hals, ihre Schultern, als sei das seine einzige Rettung. Danach weint sie – nicht aus Trauer, sondern aus körperlicher Erleichterung und zugleich aus einem vagen

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