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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Kirow-Ballet so bekannt ist. Sie wirkt beinahe ätherisch mit ihrerzierlichen Figur und ihren seelenvollen Augen. Nina kann nicht umhin, Vera dafür zu bewundern – und für ihre elegant hohen Wangenknochen, für ihr dichtes, rossbraunes Haar. Dann ruft sie sich ihre eigenen Stärken ins Gedächtnis zurück: unbändige Energie, Leidenschaft und Musikalität, schnelle Drehungen und leichtfüßige, fast schwerelose Sprünge. Zierlich und stark zu sein ist auch eine Gabe, und ein hübsches Allerweltsgesicht hat seine Vorzüge. Im Grunde ist es ein Segen, dass Vera und sie so unterschiedliche Stile und ein so unterschiedliches Äußeres haben, denn es bedeutet, dass sie selten um dieselben Rollen konkurrieren werden.
    An jenem ersten Tag muss Nina sich zusammenreißen, um Vera nicht mit zu vielen Fragen zu bestürmen, als sie ihre Sachen in die Schublade des Schminktischs räumt. Aber sie fragt, wo sie unterkommen wird.
    »Bei einer Familie, die ich gar nicht kenne. Sie haben ein Bett in der Kammer. Übergangsweise, bis das Ballett etwas anderes für mich auftut.« Bei der gegenwärtigen Wohnungsnot ist das leichter gesagt als getan. »Beide Eltern sind Orchestermusiker – und sie haben
drei
Söhne.« Vera verdreht die Augen, und Nina hat Mitleid mit ihr, zumal sicher alle in einem einzigen Zimmer wohnen. »Es ist fast schon komisch. Ich bin eine der Glücklichen, die tatsächlich eine Bewilligung bekommen haben« – eine Aufenthaltsbewilligung für Moskau – »und dann finde ich kein Zimmer. Gleichzeitig höre ich immer wieder von Leuten, die eine ganze Wohnung haben und sich Sorgen machen, weil ihnen die Bewilligung fehlt.«
    Inzwischen hat sie ein kleines gerahmtes Porträt zweier junger Leute auf den Tisch gestellt, so jung, dass Nina eine Weile braucht, um sie als Veras Eltern zu erkennen. Vera holt einen auf der Rückseite festgesteckten, vergilbten Zettel hervor, faltet ihn auf und befestigt ihn in der Ecke des Spiegels. Als Nina genauer hinsieht, zieht sich ihr das Herz zusammen. Es ist ein Telegramm.
    Nina muss die Worte darauf gar nicht lesen, um zu wissen, dass es eine der Nachrichten ist, die ihre Mutter damals, vor so vielen Jahren, so sorgfältig formuliert hat, als sei sie auch Veras Mutter.
    Ihre Mutter, ganz allein in einem leeren Zimmer … Seit sie nicht mehr arbeitet und sich nicht mehr um Nina kümmern kann, scheintihr eigenes Leben ihr nicht mehr so viel zu bedeuten. Sogar die vielen Besorgungen für andere macht sie jetzt seltener. Ninas Onkel ist im Jahr davor nicht aus dem Gefängnis entlassen, sondern nach Sibirien verbannt worden. Und die alte Dame aus dem Stockwerk unter ihr, die sie täglich besucht hat, ist gestorben. Dennoch hält sie ihr Zuhause makellos sauber, stellt kleine Gebinde aus Kapuzinerkresse in Flaschen auf und schmückt die Fensterbank mit Kletterpflanzen, die sie in leere Dosen pflanzt. Ihre ganze Kraft bezieht sie daraus, sich um andere zu kümmern; nur selbst nimmt sie ungern Hilfe an. Obwohl Nina ihr manchmal neue Kleidung kauft, bessert Mutter die Krägen und Ärmel ihrer alten Strickjacken aus und trägt noch immer ihr verblichenes, geblümtes Kopftuch auf dem Weg zum Gastronom und zurück. Aber inzwischen macht sie ihre Runden langsam, mit gebeugten Schultern, obwohl sie noch keine fünfzig ist. Sie, die damals mit raschen, resoluten Schritten Nina und Vera zum Vortanzen getrieben hat wie kleine Gänschen …
    Nina wird bewusst, wie sehr ihre Mutter auch Vera immer geliebt hat und dass in ihrem Zimmer immer noch das metallene Feldbett mit der Baumwollmatratze steht, in dem Nina bis zum vorigen Jahr geschlafen hat.
    »Und wenn du bei meiner Mutter wohnen würdest?«, fragt Nina. »Wäre dir das lieber?«
    »Ich kann ihr doch nicht den Platz wegnehmen.«
    »Aber Vera. Sie liebt dich. Sie wäre so glücklich darüber!« Ninas Blick fällt wieder auf das Telegramm. Wie viele davon hat ihre Mutter Vera geschickt? Wann hat sie damit aufgehört? Am liebsten würde sie Vera danach fragen und ihr die Wahrheit erzählen, zum Beweis, wie sehr ihre Mutter sie liebt. Aber es gibt eben Geheimnisse, die gewahrt bleiben müssen.
    Eine Woche darauf zieht Vera mit einem schwarzen Persianermantel, fünf Paar Schuhen und einer großen Reisetruhe in das Zimmer ein, das Nina vor fast anderthalb Jahren verlassen hat. Dass die beiden in gewisser Weise die Plätze getauscht haben, kommt ihnen gut und richtig vor. Schließlich musste Vera damals so plötzlich alles zurücklassen. Jetzt hat

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