Die Tänzerin im Schnee - Roman
E-Mails schlugen ihm Studentinnen vor, zusammen »irgendwo außerhalb des Campus« Kaffee trinken zu gehen oder gemeinsam eine Ausstellung russischer Maler zu besuchen, und zwar in Connecticut. Letztes Jahr hatte eine junge Frau ihm ausführlich ihr Herz ausgeschüttet und abschließend erklärt, sie sei jetzt endlich über ihn hinweg – aber ob er vielleicht am nächsten Abend mit ihr ausgehen wollte?
Inzwischen war er zu dem Schluss gekommen, dass es seine Trauer war, die ihn so attraktiv machte. Sosehr sie ihn auch bedrückte – der Schmerz besaß seine ganz eigene, furchterregende Energie, eine Kraft, die von ihm ausstrahlte, die spürbar sein ganzes Wesen ergriff.
Und jetzt also Evelyn mit dem fedrigen blonden Haar …
Der Kellner brachte ihren Wein. »Cheers«, sagte Gigori beim Anstoßen, und Evelyn antwortete: »Alles Gute zum Valentinstag.«
Die erste Probe der neuen Saison, ein kalter, regennasser Tag in Ninas zweitem Ehejahr. Sie sitzt in ihrer Garderobe und näht neue Bänder an ein Paar Spitzenschuhe. Am Schminktisch gegenüber behandelt Polina gerade ihr Gesicht mit Feuchtigkeitscreme. Sorgfältig beklopft sie mit den Fingerspitzen ihre Haut, damit die Creme gut einzieht. Dieses Ritual ist nur der erste Schritt einer langen, komplizierten Prozedur, deren letzter in einer Waschung mit kaltem Wasser und ein paar Tropfen Ammoniak besteht, die ihre Sommersprossen aufhellen sollen.
Während Polina ihr Gesicht beklopft, erzählt sie Nina von ihrer neuen Liebe, einem Mann namens Igor. So wie sie über ihn spricht, könnte er ebenso gut ein berühmter Filmschauspieler sein, ist aber in Wirklichkeit nur wieder der nächste Parteifunktionär, der stellvertretende Leiter einer Abteilung einer Außenstelle irgendeines Ministeriums – Nina kann es sich schon nicht mehr merken. »Er ist so süß zu mir, Nina. Wie ein Kätzchen.«
»Schön, so soll es sein.« Was Nina viel lieber sagen würde, ist: Du brauchst ihn nicht. Du bist Tänzerin; kümmere dich um deine Technik statt um diese … diese Lakaien. So nennt sie sie, auch wenn sie esnie laut aussprechen würde. Kleine Bürokraten, die sich mühen, die nächste Leitersprosse zu erklimmen. Nina kennt diesen Menschenschlag: Geheimagenten in Zivil, die in der Personalabteilung des Theaters die Akten nach irgendwelchen Kleinigkeiten durchkämmen, um sie ihren Vorgesetzten zu melden, Beamte in dunklen wollenen Anzügen, die bei Ninas Auftritten in Ministerien ihre Untergebenen öffentlich herunterputzen, und Agitprop-Leute vom Zentralkomitee, die dann und wann schweigend in den unbeleuchteten hintersten Sitzreihen des Parketts sitzen und zusehen, wie ihr armer Intendant bei der Generalprobe Blut und Wasser schwitzt. Karrieristen, die alles tun würden, um in der Hierarchie aufzusteigen.
»Diesmal ist es wirklich der Richtige, Nina. Ich hab’s im Gefühl.«
»Das ist gut, Polina, das freut mich für dich.« Aber sie hält den Blick gesenkt. Manchmal beschleicht sie das Gefühl, Polina ginge es bei ihrem Beruf gar nicht so sehr um das Tanzen wie um das Privileg, eine Ballerina zu sein.
In dem Moment geht die Tür auf. »Man hat mir gesagt, dass ich dich hier finde.«
Nina starrt die wunderschöne junge Frau verblüfft an. Dann fällt ihr der Ballettschuh aus der Hand. Es ist Vera, die da vor ihr steht.
Ja, Vera, und sie lächelt zufrieden, weil ihr die Überraschung gelungen ist. Sehr schlank und feingliedrig ist sie, eindeutig kein Mädchen mehr. Nina schnappt geräuschvoll nach Luft, stürzt auf sie zu und schlingt ihre Arme um Veras zarte, wenn auch hochgewachsene Gestalt. Ihr wird klar, wie lange sie schon nicht mehr an sie gedacht hat.
»Du!«, ist alles, was Nina endlich herausbringt. Sie schafft es nicht einmal, die beiden Frauen einander vorzustellen. Vera übernimmt diesen Part selbst, während Nina allmählich die Fassung wiedergewinnt und sich zu fragen beginnt, wie all die Jahre, der Krieg und wer weiß was noch Vera verändert haben, die jetzt zu Polina sagt: »Ich bin Vera Borodina.«
Den Namen hat Nina schon gehört; Vera Borodina ist die neue junge Schönheit aus dem Kirow-Ballett. Sie trägt also einen neuen Nachnamen, einen Künstlernamen wahrscheinlich, und Nina erinnert sich wieder an den Tag, als sie gemeinsam zur Ballettschule gingen,um vorzutanzen. Veras Eltern waren über Nacht verschwunden: »Mit denen hat schon immer was nicht gestimmt …« Es ist das erste Mal seit Jahren, dass Nina an diese scheinbar völlig normalen
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