Die Tänzerin im Schnee - Roman
zurückfanden zu einer ruhigeren, gefestigten, zahmen, aber sehr realen Liebe.
»Okey dokey, es kann losgehen.«
Als Grigori aufblickte, stand Evelyn in einem langen, glänzenden Ledermantel vor ihm, der genau zu ihren hochhackigen Stiefeln passte, und mit einem resolut geknoteten, breiten Wollschal um den Hals. »Du siehst aber heute elegant aus«, sagte er, schlüpfte ebenfalls in seinen Mantel und machte sich mit ihr auf den Weg zur U-Bahn.
Sie hatte den Thailänder in der Nähe des Theaters vorgeschlagen, und Grigori hatte zwar wenig Appetit, hoffte aber, dass er sich noch einstellen würde. Es tat ihm immer gut, mit Evelyn etwas zu unternehmen. Sie war klug, gutmütig und konnte über sich selbst lachen. Außerdem hatte sie Christine gekannt und scheute sich nicht, über sie zu sprechen. Allerdings hatte sich bei ihren letzten paar Treffen ganz allmählich – unmerklich fast – eine Veränderung eingeschlichen. Es hatte Momente gegeben, wenn sie sich abends verabschiedeten, in denen er spürte, dass sie mehr von ihm erwartete. Diesen ganz bestimmten Gesichtsausdruck hatte er nicht zum ersten Mal an ihr gesehen, aber bis vor kurzem war er sicher gewesen, dass er ihn sich nur einbildete. Es folgten einige peinliche Augenblicke, und letztes Mal hatte er für Sekundenbruchteile Evelyn deutlich angesehen, wie enttäuscht sie war, dass er nicht auf ihre Signale reagierte.
Aber für ihn war Evelyn nie mehr gewesen als … Evelyn eben, eine zierliche, hübsche Person, unerklärlicherweise Single, mit einem ehrlichen Lachen, einer offensichtlich teuren, luftigen Fransenfrisur und mindestens dreißig Paar hochhackigen Schuhen.
Heute Morgen jedoch, als er sich beeilt hatte, das Haus zu verlassen, hatte Grigori sich vorgenommen, für Evelyn offen zu sein. Er hatte sogar sein bestes Hemd angezogen, ein Geschenk von Christine, aus dickem, luxuriösem Baumwollgewebe, von der Sorte, zu der man Manschettenknöpfe tragen musste. Bisher hatte er es nur zubesonderen Anlässen angehabt. Nun, vielleicht würde der heutige Abend ja auch einer werden.
Dieser Gedanke machte ihn nervös. Im Restaurant ertappte er sich dabei, an seinen Ärmeln herumzuzupfen. Aber Evelyn wirkte entspannt und zufrieden, und Grigori beruhigte sich etwas, als der Kellner kam, um ihre Bestellung aufzunehmen.
»Manschettenknöpfe«, sagte Evelyn. »Schick.«
»Sie haben meinem Vater gehört.« Als Geologe und Feldforscher hatte Feodor selten Gelegenheit gehabt, sie zu tragen. Der ruhige, nachdenkliche Feodor, der immer seine widerspenstige Haarsträhne glättete, als verkörperte sie alles Ungebärdige, das es auf der Welt gab. Und doch konnte er auch schreien, konnte sich verzweifelt mit beiden großen Händen an den Kopf fassen, wenn Grigori Fragen zur Mathematik stellte, die er viel zu grundlegend fand. Erst nachdem sie Russland verlassen hatten, als Grigori in Norwegen mit anderen Kindern Freundschaften schloss, begann er zu begreifen, dass nicht in allen Familien die Emotionen so herausgeschrien wurden wie in seiner. Ein Junge, der ihn zum Spielen in seiner Wohnung in Narvik besuchte, wirkte verängstigt, als Feodor Katja auf Russisch anbrüllte. Die beiden diskutierten nur gerade ein Thema aus der Zeitung, aber Grigori erkannte zum ersten Mal, dass Diskussionen bei anderen Leuten, in anderen Kulturen ganz anders aussehen konnten.
»Du siehst richtig gediegen aus«, sagte Evelyn und lächelte ihr offenes, strahlendes Lächeln.
Vielleicht war dies die große Chance, den nächsten Schritt zu tun – doch Grigori fragte sich, ob es nicht zu riskant war, eine Freundschaft zur Beziehung werden zu lassen. Schließlich war sie viel jünger als er, höchstens vierzig; der Altersunterscheid schien sie allerdings nicht weiter zu stören. Vielleicht galt er ja als »guter Fang«. Studentinnen schwärmten jedenfalls oft genug für ihn, aber das war doch etwas anderes. Die kleinen Botschaften auf den letzten Seiten von Tests oder Essays – »Können wir dieses Thema auch persönlich besprechen?«, oder »Vielleicht könnten wir uns gelegentlich auf einen Drink treffen?« – hatten ihn früher nicht besonders überrascht. Er war davon ausgegangen, dass sie mit den Jahren weniger würden, und das taten sie auch, sobald er über vierzig war. Doch dann geschah etwas, erbegriff nicht ganz, was es war, und die Schwärmereien kamen wieder häufiger vor, ein oder zwei Mal pro Semester. Mal bekam er ausdrückliche Anträge, mal unfreiwillig eindeutige Hinweise. In
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