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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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erklärt, dass der Dirigent ihnen die Einsätze geben kann, sollten sie nicht weiterwissen. Die Näherin hat das schwarz gefiederte Odile-Kostüm an Ninas Maße angepasst, aber im Augenblick trägt sie einen bequemen Hausanzug; sie hat ihren ersten Auftritt erst nach der Pause. »Es könnte meine Sicht einschränken.«
    »Iwo, daran gewöhnt man sich.« Eine nach der anderen reiht sie die kleinen Perlen auf ihren Wimperspitzen auf, und mit jeder wirkt Veras Gesicht ein wenig offener, unschuldiger, ihre Augen größer und ausdrucksstärker. Nina staunt schon wieder, wie so oft, wie schön Vera ist – und darüber, dass sie als Kind nichts davon gemerkt hat. Dieses Staunen und der leise Stich, den es ihr versetzt, sind Gefühle, an die sich Nina jetzt allmählich gewöhnt. Sie scheinen eben dazuzugehören, wenn man eine Freundin im selben Alter hat, eine Busenfreundin, fast eine Schwester, wenn man erlebt, was sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gekannt hat: eine wahre Freundschaft unter Frauen. Sie hat sich in den letzten Wochen nicht nur wieder daran gewöhnt, was es bedeutet, sein Leben auf diese Weise mit jemandem zu teilen, zu geben und zu nehmen, sondern auch an Vera selbst, die neue, erwachsene Vera, die schließlich nicht mehr das Mädchen ist, das vor Jahren Moskau verließ.
    Dennoch kann sie heute nicht umhin, sich zu fragen, was wäre, wenn Vera nicht die Kompanie gewechselt hätte. Würde sie dann auch die Odette tanzen und nicht nur Odile? Sei nicht neidisch, sagt sie sich und kümmert sich wieder um ihre Schuhe. Sie verstärkt beide Spitzen mit dickem Garn, damit sie besser halten. Heute wird sie besonders stabile Schuhe brauchen, für die vielen Drehungen, die zur Rolle der Odile gehören. Und sie muss sich konzentrieren, sich einfühlen, nicht an die arme Odette denken, sondern an die stürmische, willensstarke Odile und an von Rothbart, der sie für seine finsterenZwecke missbraucht. Ihr Magen zieht sich zusammen, weil es das erste Mal ist, dass sie die Rolle vor Publikum tanzt.
    Vera hat ihr Werk vollendet, wischt den kleinen Tiegel aus, löscht die Kerze und versteckt ihre Utensilien in der Schublade; Kerzenlicht ist in den Garderoben verboten. Zum Abschluss tupft sie noch einen kleinen roten Punkt in beide Augenwinkel.
    Wie weit sie beide gekommen sind, denkt Nina, seit damals im Juni, als sie noch nicht einmal wussten, was ein Plié war. Plötzlich fällt ihr etwas ein, an das sie lange nicht zurückgedacht hat: »Dein Lampenfieber.« Kaum dass sie die Worte ausgesprochen hat, tut es ihr schon wieder leid.
    Vera sieht sie fragend an.
    »Ich habe nur gerade an das Vortanzen gedacht. An der Bolschoi-Schule, damals.«
    Vera wirkt abwesend, als könnte sie sich kaum noch daran erinnern. »Das war ein schwerer Tag für mich. Man hatte gerade meine Eltern abgeführt.«
    Ihre Stimme klingt auf fast gekünstelte Weise gebrochen, und Nina spürt, wie sie ungeduldig wird – als hätte Vera allen Schmerz dieser Welt ganz allein für sich gepachtet. Dabei kennt jeder den einen oder anderen, der verhaftet worden ist. Von den drei berühmtesten Ballerinen des Hauses haben zwei, die Semjonowa und die Lepeschinskaja, die Verhaftung ihrer Ehemänner erleben müssen. Semjonowas Mann wurde exekutiert. Gerade letztes Jahr wurde eine der Gruppentänzerinnen mitten in der Generalprobe von einem Mann abgeholt, den man an seiner Jacke unschwer als Geheimdienstler erkennen konnte. Sie kam nie zurück. Ein paar Tage später wurde ihr Name aus dem Dienstplan gestrichen, und niemand hat sie seither je wieder erwähnt.
    Und dann ist da noch Ninas eigener Onkel, der jetzt in irgendeinem fernen Lager verschwunden ist. Trotz allem ist Nina vollauf bewusst, dass es Vera viel schlimmer getroffen hat. Wie leicht hätte sie im NKWD-Kinderheim landen können. Wäre sie nur ein oder zwei Jahre älter gewesen, hätte man sie vielleicht zum Tode verurteilt. Sicher wird irgendwo eine Akte über sie geführt. Dass sie überhaupt über ihre Vergangenheit spricht, erfordert schon großen Mut, auch wenn Polina im Augenblick nicht dabei ist. Es beweist, wie sehr Veradarauf vertraut, dass Nina sie nicht verraten wird, denn das Bolschoi darf von alledem nichts wissen. Andererseits wäre es möglich, dass sie bereit sind, es zu übersehen. Wie bei der Semjonowa, die bei all ihrem Ruhm noch immer die Frau eines »Volksfeindes« ist. Möglich ist auch, dass Veras Eltern, wer immer sie waren, was immer sie getan haben mögen, einfach nicht wichtig

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