Die Tänzerin im Schnee - Roman
sie ihre Heimatstadt wieder, hat eine beste Freundin und eine Mutter, wenn auch alle drei nicht dieselben sind wie zuvor.Ninas Mutter ist mehr als froh, Vera bei sich aufzunehmen, und Nina und sie gehen oft gemeinsam zu ihr, manchmal auch mit Viktor, um mit ihr Tee zu trinken. Ihre ersten gemeinsamen Wochen sind angefüllt von Vertraulichkeiten, vom Aufholen der vielen getrennt verbrachten Jahre, von hastig hervorsprudelnden Geschichten und kleinen Erinnerungsfetzen hier und da, als nähten sie zusammen an einem Flickenteppich, der in großen Schüben in alle Richtungen wächst. Bald haben sie einen neuen gemeinsamen Rhythmus gefunden, der dem alten immerhin darin gleicht, dass sie einander täglich sehen.
Nina hätte den Valentinstag geflissentlich ignoriert, wenn nicht Cynthia beschlossen hätte, ihn zu begehen. Natürlich hatte Shepley ihr per Boten eine Schachtel rettungslos überteuerter Pralinen liefern lassen, und eine etwas niedergedrückte Tama hatte ihr am Telefon alles Gute gewünscht, aber auf beides musste sie nicht weiter reagieren. Jetzt dagegen brachte Cynthia außer den Einkäufen für ihr Abendessen auch eine langstielige Rose und eine Grußkarte mit. Wahrscheinlich hatten ihre Vorgesetzten allen Pflegern diese Ausrüstung mitgegeben, dachte Nina, zog dann aber doch auch die Möglichkeit in Betracht, dass Cynthia selbst darauf gekommen sein könnte. Die Karte war aus dickem Karton und mit der Fotografie eines Welpen bedruckt, der ein papierenes Herz im Maul trug. Cynthia hatte auf die Rückseite mit rotem Filzstift ebenfalls ein kleines Herz gemalt und dann in großen Druckbuchstaben ihren Namen daruntergesetzt, als hätte Nina eine Sehschwäche.
Die Rose stellte sie in einer langen, schmalen Kristallglasvase auf einen Tisch in der Eingangshalle, so dass Nina sie vom Salon aus sehen konnte. In der warmen Heizungsluft hatte die Knospe schon begonnen, sich zu öffnen, und Nina nahm an, dass sie nicht lange halten würde. War es nicht immer dasselbe? Eine jähe Blüte, dann fielen die Blätter; erst langsam, eins nach dem anderen, und dann, plötzlich, alle zugleich.
Viktor, wie er so überraschend in ihrer Garderobe aufgetaucht war, den Arm voller Rosen.
»Alles klar da draußen, meine Süße?«, rief Cynthia aus der Küche.Heute gab es natürlich wieder keine Zwiebeln. Billy hatte in einem Restaurant im South End einen Tisch bestellt, einer »Brasserie«, wie Cynthia es nannte.
Neben der Rose blickte ihr der Grußkartenwelpe diensteifrig entgegen. »Ja, danke, alles in Ordnung«, sagte Nina, obwohl sie schon wieder spürte, wie dieses furchtbare Gefühl sie überkam: ein pechschwarzes, überwältigendes, wenn auch vages Gefühl der Schuld. Cynthia klapperte in der Küche emsig mit Töpfen und Pfannen, wie um sicherzugehen, dass Nina nicht wieder abdriftete. Und jetzt meldete sich mit einem lauten, unangenehm schnarrenden Geräusch das Telefon.
»Ich gehe schon ran«, sagte Nina möglichst ruhig, obwohl ihrer Erfahrung nach ein klingelndes Telefon meistens ein schlechtes Omen war.
Es war Drew Brooks. »Von Bell…«
»Ich weiß schon, wer Sie sind, das müssen Sie mir nicht erst noch sagen.«
»Gut, ja, ich rufe nur an, um Ihnen zu sagen, dass es bei Ihrer Kollektion eine kleine Unstimmigkeit gibt.«
Ein scheußliches Ziehen in der Brust – die Furcht davor, was jetzt schon wieder schiefgelaufen sein könnte.
Es gehe um die Ohrstecker, die in der St.-Botolph’s-Liste als Smaragdohrstecker bezeichnet würden, erklärte Drew, ohne dabei im Mindesten beunruhigt zu klingen. »Unsere Gutachter haben festgestellt, dass sie in Wirklichkeit aus Chromdiopsid sind.«
Diesen Begriff hatte Nina noch nie gehört. Ihr Puls beschleunigte sich bei dem Gedanken, bei einer – wenn auch unwissentlichen – Lüge ertappt worden zu sein. »Das wusste ich nicht«, sagte sie. »Man hat mich getäuscht.«
»Ach, wissen Sie, das wird ganz häufig verwechselt«, sagte Drew. »Man nennt diese Steine sogar ›Sibirischer Smaragd‹, weil sie dort so häufig vorkommen. Es überrascht mich gar nicht, dass Sie welche besitzen.«
»Also sind es doch Smaragde«, sagte Nina erleichtert. »Aus Sibirien.«
»Nein, das ist es ja gerade. Sie werden wegen ihrer Farbe Smaragdegenannt, sind aber nur Halbedelsteine und weit weniger wertvoll als die echten.«
»Ich verstehe.« Gegen ihren Willen war sie enttäuscht – wie damals, als sie die kleine eckige Schachtel geöffnet und darin die grünen Ohrstecker gefunden
Weitere Kostenlose Bücher