Die Tänzerin im Schnee - Roman
Eheleute zurückdenkt, in deren Alltag nichts darauf hindeutete, wie sie einmal enden sollten. Denn erst jetzt, als Erwachsene, begreift sie, was mit ihnen geschehen sein muss. Nicht, dass sie es wagen würde, Vera danach zu fragen, nicht in Polinas Gegenwart jedenfalls. So oder so war es sicher klug von Vera, jede sichtbare Verbindung zu ihren Eltern zu kappen. Und jetzt heißt sie also Vera Borodina …
Nina betrachtet sie fasziniert, ihr Gesicht, das hagerer geworden und doch erst jetzt voll erblüht ist, mit den prägnanten, rosig überhauchten Wangenknochen. Kleine Lücken zwischen ihren überraschend geraden Schneidezähnen verleihen ihr ein besonders jugendliches Aussehen, wenn sie lacht. Kräftig rotbraunes Haar und dunkle, weit auseinander stehende Augen mit einem melancholischen, fast entrückten Ausdruck darin. Vielleicht kommt dieser Eindruck auch von der dick aufgetragenen Wimperntusche, die sie kindlich und unschuldig aussehen lässt und fast so, als hätte sie geweint.
Sie hält den Zugbandbeutel für Strumpfhosen, Trikots und Seife in der Hand, den alle Tänzerinnen am Bolschoi ausgehändigt bekommen. Also wurde sie ins Ensemble aufgenommen. Aber Nina ist in dem Augenblick noch mit ganz anderen Gedanken beschäftigt: Vera ist hier. Sie hat überlebt. Sie ist zurückgekehrt. »Na, so was«, sagt Polina, als sei auch sie eine alte Freundin von Vera und zutiefst überrascht.
Als Vera ihren Beutel wie selbstverständlich auf den Stuhl vor dem leeren Schminktisch fallen lässt, der seit zwei Jahren unbenutzt in einer Ecke der Raumes steht, spürt Nina kurz den widersinnigen Impuls, ihr Revier zu verteidigen; sie werden sich den kleinen Raum jetzt zu dritt teilen müssen. Aber es ist
Vera
, sagt sie sich. Vera Borodina … Dennoch ist sie auf der Hut, wie immer, wenn sie neue Bekanntschaften schließt. Vera wischt geistesabwesend ein wenig Staub von der Tischfläche. Dass ihr ein Platz in dieser Garderobe zugewiesen wurde, muss bedeuten, dass sie als Solistin engagiert ist und auch Hauptrollen übernehmen soll. Der Intendant selbst muss sie rekrutiert haben, denkt Nina, oder sie hat Kontakte zum Ministerium, vielleichtsogar zum Kreml. Im Bolschoi legt man großen Wert auf gute Verbindungen, auf Freunde, Familie und Beziehungen zur Partei. Da ist zum Beispiel die Lepeschinskaja – fast vierzig und tanzt noch immer Hauptrollen. Ihr Ehemann ist der Generalstabschef der UdSSR, und alle haben schreckliche Angst vor ihr.
Sicher kennt auch Vera jemanden. Polina ist anzusehen, dass sie sich dasselbe fragt. Immer wieder schielt sie zu Vera hinüber, ob aus Neid auf ihre Schönheit, aus Neugierde oder aus Angst davor, wer sie wohl sein mag. Schließlich kommt mit Vera auch neue Konkurrenz ins Haus. Wie jede Ballerina wird sie nach dem streben, was auch Polina und Nina wollen: es bis ganz nach oben zu schaffen.
Sobald Vera im Unterricht zu tanzen beginnt, ist offensichtlich, dass sie ihr Engagement nur ihrem eigenen Können zu verdanken hat. Ihrer Präzision und Agilität, ihren Füßen, die viel flinker sind als die der anderen. Der Sicherheit und Genauigkeit ihrer Schlagfolgen und der Gleichmäßigkeit ihrer Bourrées. Vor allem aber besitzt sie jene unerklärliche magische Eigenschaft, die auch Nina oft nachgesagt wird, den Zauber, der das Publikum in ihren Bann zieht.
Zugleich erlebt Nina, wie unterkühlt der Leningrader Stil wirken kann. Eine gewisse Strenge liegt in Veras Bewegungen; ihre Ausdruckskraft bleibt ganz auf den Oberkörper beschränkt (mit einer dünnen Wolljacke, die ihr fragiles Schlüsselbein und ihren sehr hellen Teint zur Geltung bringt). Diese gezügelte Perfektion macht Nina bewusst, dass nicht nur ihre Kindheitserlebnisse sie unterschiedlich geprägt haben, ihre Erziehung, sondern dass auch das unterschiedliche Regime, dem ihre Körper unterworfen waren, sie voneinander trennt.
Zuerst ist Nina beinahe neidisch auf Veras Können und auf ihre erstaunliche Figur, ihre langen, zarten Glieder und elegant gewölbten Füße. Sie spürt diese schmerzliche Sehnsucht nicht zum ersten Mal, das Gefühl, alles dafür tun zu wollen, um so einen Körper zu besitzen, auch wenn es inzwischen viele Jahre her ist, dass ihre Mitschülerinnen und sie sich einander auf die durchgestreckten Füße setzten, um sie zu wölben, oder sich die schwellenden Muskeln massierten, um schmalere Waden zu bekommen. Von den Fingerspitzen bis hinunter zu den starken Zehen verkörpert Vera die stille Würde, für die das
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