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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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waren, nicht mächtig oder bekannt genug, dass irgendjemand das Schicksal ihrer Nachkommen weiter verfolgt hätte. So wirkt das Paar auf dem Foto auf Veras Schminktisch: bieder, anspruchslos und sehr jung.
    Wer immer sie waren, was immer sie getan haben mögen.
    Zum ersten Mal seit Jahren denkt Nina darüber nach. Sehr leise fragt sie: »Hast du je herausgefunden, was sie …« Sie zögert, kann sich nicht entschließen, die Frage zu Ende zu stellen. »Was deine Eltern …«
    Vera schließt kurz die Augen, wie um sich vor einem unschönen Anblick zu schützen. »Was sie getan haben, meinst du?« Sie spricht langsam und sehr leise. »Ich habe vor ein paar Jahren von einer früheren Nachbarin erfahren, was geschehen ist. Sie hat alles mit angesehen. Eigentlich wollten die vom NKWD das Ehepaar verhaften, das im Zimmer nebenan lebte. Dort waren sie zuerst, aber die beiden waren nicht zu Hause. Also gingen sie einfach eine Tür weiter.« Vera zuckt die Schultern.
    »Aber dann war es ein Irrtum!« Nina ist entsetzt. »Wie konnte denn … Jemand muss doch …« Sie muss an die ewigen Beschwörungsformeln ihrer Mutter denken:
Wenn erst Genosse Stalin davon erfährt … Wenn er davon wüsste …
    Aber Vera wirkt gar nicht zornig, nur traurig, und Nina wird klar, dass es zu spät ist, dass ihre Eltern unmöglich so lange überlebt haben können. Vielleicht hat Vera sogar von ihrem Tod erfahren. Und doch – so ein entsetzlicher Fehler! Ganz abgesehen davon, dass Vera ihr Leben lang ein Makel anhaften wird.
    »Du könntest sie rehabilitieren lassen«, sagt Nina, die immer noch verzweifelt nach einem Weg sucht, alles irgendwie wieder geradezurücken.
    Aber Vera scheint gar nicht mehr zuzuhören. »Jedes Mal, wenn ich Zug fahre oder eine Brücke überquere, frage ich mich: Haben siediese Schienen gelegt? Waren sie dabei, als diese Straßen gebaut wurden?«
    Nina hat nie vergessen, was Vera damals gesagt hat:
Sie haben wichtige Dinge zu tun. Darum mussten sie fort.
Aber dann kommt ihr noch ein anderer Gedanke: Vielleicht hat die frühere Nachbarin die Geschichte mit dem Ehepaar von nebenan nur erfunden, damit Vera sich nicht der Wahrheit stellen muss. Vielleicht war sie es, die gelogen hat, und nicht die Männer vom NKWD.
    Plötzlich fühlt sich Nina vollkommen verwirrt.
    Die Tür geht auf, und die Näherin gibt Vera ihr Kostüm, an dem sie ein paar lose Federn neu befestigt hat. »Danke«, sagt Vera ruhig, beinahe hoheitsvoll, und steht ohne Eile auf, um in das steife weiße Tutu zu steigen, es über ihrer Strumpfhose zurechtzuziehen und sich die Träger des Trikots über die Schultern zu streifen. Ihr Gesicht wirkt ausdruckslos, wie abwesend. Das ist Nina in Gesellschaft von anderen schon oft an Vera aufgefallen. Sie gehört zu den Solistinnen, die gern für sich bleiben, die selten mit den Kolleginnen plaudern – aber ihre Unnahbarkeit und Zurückhaltung machen sie für alle anderen nur umso anziehender. Als die Näherin ihr bei den Verschlüssen zur Hand geht, erkennt Nina, wie gut Vera nicht nur das Kostüm steht, sondern auch die Rolle – anmutig, aber zerbrechlich; entrückt und fast ein wenig gespenstisch.
    »Geh lieber rasch in die Maske«, sagt die Näherin und verschwindet wieder.
    »Hals und Beinbruch«, wünscht Nina ihr noch schnell.
    »Toi, toi, toi.« Und schon folgt Vera der Näherin zur Tür hinaus.
     
    Die Nachzügler, die sich erst beim Verlöschen der Lichter zu ihren Plätzen durchgekämpft hatten, flüsterten und raschelten immer noch mit ihren Programmheften, als die Ouvertüre erklang. Grigori saß neben Evelyn und ertappte sich dabei, weniger auf Tschaikowskis Musik zu hören als auf die Geräusche im Zuschauerraum: das Räuspern der älteren Herren, den pfeifenden Atem der Übergewichtigen, das Wispern der kleinen Mädchen in ihren schweren Samtkleidern. Hinter ihm erklärte eine Mutter ihrer Tochter geduldig, bald werde sich der Vorhang heben, während das Kind jammerte, es sei ihm zudunkel. Rechts neben Grigori saßen ein paar junge Frauen, reichten eine Packung Kaugummi die Reihe hinauf und hinunter und knisterten eine nach der anderen mit dem Einwickelpapier. »Das ist ja hier wie im Zirkus«, flüsterte Grigori Evelyn zu. Sie lachte und tätschelte ihm sanft den Arm. Wie lange es her war, dass sich etwas so gut angefühlt hatte! Sie ließ ihre Hand dort liegen, doch als er überrascht darauf hinuntersah, wurde es ihr plötzlich unangenehm, und sie zog den Arm wieder zurück. Aufgebracht drehte

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