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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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sich Grigori nach den Mädchen mit der Kaugummipackung um und starrte sie wütend an. Es schien sie nicht weiter zu stören.
    Endlich hob sich der Vorhang, und Grigori konnte sich ganz in die märchenhafte, ein wenig komische Welt auf der Bühne versenken – Prinz Siegfried stand in weißen Strumpfhosen verloren in der bunten Szenerie und gestikulierte, als gäbe es kein Morgen. Nach dem Zwischenspiel wurde es besser: Die vertraute Melodie erklang, im dunklen Wald lichtete sich langsam der Kunsteisnebel und gab den Blick auf zwei Dutzend in sich zusammengesunkene Schwanenmädchen frei. Mit gedämpftem Trappeln vollführten sie ihre Bourrées, die furchtsam flatternde Odette mit ihren gefiederten Ohrenschützern vorneweg. Sie hatten gute Plätze, so nah, dass Grigori das Zittern der Tutus sehen konnte – flache, gerüschte Gebilde, fast wie umgedrehte weiße Nelken. Evelyn seufzte und lehnte sich ganz leicht an Grigoris Schulter. Vielleicht war das gar keine Absicht – schließlich hatte er breite Schultern und war ziemlich groß; vielleicht war er ihr einfach nur im Weg.
    Als in der Pause das Licht wieder anging, schloss sich Evelyn dem Strom der Zuschauerrinnen zu den Damentoiletten an. Grigori schob sich durch die Sitzreihe ins Foyer hinaus und holte zwei Gläser Rotwein. Während er an seinem Glas nippte, lauschte er den Geprächsfetzen um sich herum. Neben ihm erläuterte eine Dame ihrer Freundin ihren ehrgeizigen kulturellen Fahrplan für die nächsten Wochen. »Nächstes Wochenende ist das ART dran«, sagte sie und tippte auf den entsprechenden Eintrag in ihrem Terminplaner, »
und
das Huntington.« Sie blätterte weiter: »Ballett, Ballett, Symphonieorchester, Huntington, Symphonieorchester.«
    Ein Mann sagte: »Odette war heute wohl nicht ganz auf der Höhe.«
    »Meinst du?«, antwortete eine Frauenstimme.
    »Längst nicht so souverän wie die von gestern«, sagte der Mann wieder. »Vielleicht hat sie sich ja verletzt.« Ein vernehmlicher, aufgesetzter Seufzer. »Ganz davon abgesehen, klangen die Schwäne heute eher wie eine Elefantenherde.«
    Also bitte, hätte Grigori am liebsten gesagt, wie kann man nur so verwöhnt sein? Odette war großartig, und die Schwanenmädchen ebenso; alle haben ihr Bestes gegeben, um wahrhaft große Könnerschaft auf die Bühne zu bringen. Die Zuschauer waren dermaßen verhätschelt, er selbst eingeschlossen. Konnten sie nicht einfach genießen, in einem prunkvollen Theater zu sitzen und zu live vorgetragener Orchestermusik körperliche Höchstleistungen zu bewundern? Stattdessen fühlte dieser Mann sich berechtigt, enttäuscht zu sein! Dass manche Menschen so viel erwarteten, dass sie so viel erwarten
konnten
, ohne sich dann ihrer Enttäuschung zu schämen, wollte ihm einfach nicht in den Kopf.
    Ein kleines chinesisches Mädchen wurde von ihren blonden, blauäugigen Eltern mit Süßigkeiten vollgestopft. »Ich würde alles tun, damit ihr das Ballett gefällt«, sagte die Mutter lachend, als sie seinen Blick bemerkte.
    »Ist sie zum ersten Mal hier?«
    »Ja«, antwortete der Vater. »Sie ist erst vier; ich weiß nicht, wie viel sie überhaupt schon mitbekommt.«
    »Aber ich konnte einfach nicht warten«, sagte die Mutter mit einem strahlenden Lächeln. »Davon träume ich seit über zehn Jahren.«
    Grigori lächelte zurück. Es war schön, zwei Menschen ihre Elternrolle so sehr genießen zu sehen. Dieses Mädchen würde wahrscheinlich nie ganz begreifen, wie sehr sie von ihren Eltern herbeigesehnt und geliebt worden war, noch bevor sie zu ihnen gekommen war. Das war ein Gefühl, das Grigori verstand und noch immer kannte, dieses Hoffen und Sehnen. Christine und er hatten nach so vielen Fehlversuchen auch über eine Adoption nachgedacht, aber Christine hatte gemeint, sie hätte nicht den Willen und die Kraft, all die Jahre des Wartens zu überstehen, die vielen bürokratischen Hürden und die ständige Angst, dass in letzter Minute alles widerrufen wurde. Grigorihatte sie nicht weiter bedrängt, sosehr er es sich auch wünschte. Er hatte den Gedanken daran aufgegeben.
    Allerdings hatte Christines Freundin Amelie, deren Zwillinge inzwischen drei Jahre alt waren, im letzten Jahr eine Bemerkung gemacht, die noch immer in ihm nachklang: »Ich habe mein ganzes Leben lang über meine leiblichen Eltern nachgegrübelt, wer sie waren und wie sie gelebt haben. Aber seit ich selbst Kinder habe, grüble ich gar nicht mehr. Weißt du, ich sehe die Kleinen einfach nur an, und schon weiß

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