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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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sozusagen in der Menschenmasse übereinander gestolpert«, antwortete Grigori, froh darüber, sie nicht direkt anlügen zu müssen. Sie gingen den rot ausgelegten Gang hinunter zu ihren Sitzen zurück. Evelyn sah mit ihrem aufgefrischten Make-up und dem neu frisierten Haar besonders strahlend und gesund aus, aber Grigori fiel es schwer, sich so unbefangen wie bisher mit ihr zu unterhalten. Was sich im ersten Akt an Vertrautheit zwischen ihnen aufgebaut hatte, war verschwunden; obwohl Evelyn genauso nah bei ihm saß wie zuvor, blieb eine Fremdheit zwischen ihnen, ein Unbehagen. Das musste, überlegte Grigori, mit der jungen Frau zu tun haben, Drew Brooks, und damit, wie nervös er geworden war, weil er nicht wusste, wie er sie einander vorstellen und was er sagen sollte. Selbst jetzt war er noch unruhig und angespannt, nur weil er wusste, dass sie irgendwo im selben Theater saß.
    Der Dirigent stand wieder am Pult, das Orchester begann seine undankbare Aufgabe. Endlich hob sich der Vorhang und gab den Blick auf die bunte Riege der Prinzessinnen frei. Jetzt hatte die bösartige Odile ihren Auftritt, die Doppelgängerin von Odette. Grigori hatte den
Schwanensee
schon unzählige Male gesehen, als Christine und er Abonnenten gewesen waren, aber die heutige Vorstellung hatte etwas an sich – Odiles teuflische Selbstgewissheit, ihre verzehrende Schönheit, die hinterhältige Präzision ihrer wirbelnden Fouettés –, das sich gegen die lächerliche Staffage und die endlosen Soli der keuschen Prinzessinnen durchsetzte. Zum ersten Mal begriff er die Geschichte als wahrhaft tragisch. Wie hätte irgendjemand
nicht
auf diese bezaubernde Frau hereinfallen sollen? Plötzlich empfand Grigori echtes Mitleid, nicht nur für die arme Odette, die irgendwo tief im Wald hoffnungslos ihrem Ende entgegenzitterte, sondern auch für Siegfried, den unwissentlichen Betrüger, der selbst ein Opfer war.Schließlich hatte er seine Schwüre ehrlich gemeint. Merkwürdig – Grigori hatte sich noch nie so genau dafür interessiert, hatte noch nie weiter darüber nachgedacht als bis zu dem Punkt: »Der arme Siegfried hat alles vermasselt.« Aber jetzt, da er Siegfried bis zu den Grenzen seiner körperlichen Fähigkeiten springen und herumwirbeln sah, verstand Grigori das Stück auf eine ganz neue, emotionale Weise. Manchmal geschah ihm dasselbe auch bei der Lektüre guter Lyrik oder überhaupt von Literatur: Die tiefere Wahrheit des Werks berührte ihn im Innern und ließ ihn nicht mehr los.
     
    »Meine beiden Schönheiten«, sagt Viktor, als Nina und Vera, die Wangen vom Erfolg gerötet, später zu Gersch kommen, um sich dort mit ihm zu treffen. Die Vorführung war ein formidabler Erfolg, auch wenn die immer selbstkritische Vera darauf beharrt, die Glissade bei ihrem ersten Auftritt sei alles andere als perfekt gewesen. Aber Nina sieht ihr an, dass Vera genauso stolz und erleichtert ist wie sie selbst. Die Garderobe war fast zu klein für die vielen Blumensträuße, die sie bekommen haben. Den größten und buntesten Strauß aus Zinnien und Ringelblumen hat Nina ihrer Mutter geschenkt, als sie hinter die Bühne kam. Sie sah noch stolzer aus als sonst – nicht nur wegen Nina, sondern auch wegen Vera.
    Vera hat aus einem ihrer eigenen Sträuße eine Blüte herausgeschnitten und sie Ninas Mutter an den Mantelkragen geheftet. Später, nachdem Mutter nach Hause gegangen ist und Nina und Vera sich umgezogen haben, hat sie dasselbe bei Nina getan – hat ihr eine Gladiole an das linke Revers gesteckt, über ihrem Herzen, mit den rosaweißen Blütenblättern nach unten, »damit man sieht, dass du schon vergeben bist«. Für sich selbst hat sie ein Löwenmäulchen ausgesucht und die vielen schneeweißen Blüten richtig herum befestigt.
    Jetzt sitzen sie im Kiew, einem neuen Restaurant, das vom ukrainischen Handelsministerium betrieben wird, und essen Schweinegulasch mit Zwiebeln und Karotten. Eine kleine Kapelle im äußersten Winkel des Raumes spielt ausgelassen auf.
    »So wie du vorhin die Arme bewegt hast, Veruschka«, sagt Viktor, »da konnte ich wirklich den Schwan mit den Flügeln schlagen hören.« In der Gesellschaft schöner Frauen blüht er immer richtig auf. Obwohler Vera erst ein paar Mal gesehen hat, behandelt er sie wie eine alte Bekannte. Nina hat ihm von ihrer gemeinsam verbrachten Kindheit und von dem Vortanzen an der Bolschoi-Ballettschule erzählt, hat aber nicht erwähnt, dass ihre Eltern verhaftet worden sind. Als Viktor sie nach

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